Nach wie vor prägen schwere körperliche Arbeit, gefährliche und gesundheitsschädliche Tätigkeiten und die Abhängigkeit vom Arbeitgeber das Arbeitsleben. Die Einkommen sind niedrig, das Risiko, arbeitslos zu werden, groß. Das Leben der Arbeiterfamilien ist karg, trotz des Vordringens des kommunalen, genossenschaftlichen und betrieblichen Wohnungsbaus, und trotz des Ausbaus der genossenschaftlichen Einkaufsläden. Kranke und Alte leiden bittere Not.
In Zeiten der Arbeitslosigkeit steigt das „Armutsrisiko“ dramatisch an: Die Arbeitslosenunterstützung wird nur befristet bezahlt. Danach folgen die Krisenunterstützung und schließlich die Wohlfahrt. Auch in den 1920er/30er Jahren unterscheiden sich Arbeiterinnen und Arbeiter in Wohnen und Kleidung sowie Haushaltsführung nach wie vor deutlich von den Angehörigen der bürgerlichen Mittelschicht.
Sozio-kulturelle Milieus
Auch die sozio-kulturellen Milieus mit ihren engen sozialen und politischen Vernetzungen entfalten sich weiter. Dabei bleibt die Verzahnung der sozialdemokratischen und freigewerkschaftlichen Organisationen ebenso erhalten wie die Einbindung der katholischen Arbeiterschaft in das Leben der katholischen Kirche. Die neuen Medien, also Zeitschriften und vor allem Rundfunk und Kino, die später zur Herausbildung einer neuen schichtenübergreifenden Massenkultur beitragen werden, stecken noch in den Anfängen. Die Organisations- und Aktionsangebote der Arbeiterbewegung behaupten sich noch gegen den Ansturm der Massenmedien, der ab den 1950er Jahren zu einer Nivellierung von Lebensentwürfen und -stilen führt.
Es bildet sich eine breite Arbeiterkulturbewegung heraus, zu der Turn- und Sportvereine, Gesangsvereine sowie Hilfsorganisationen wie die von Marie Juchacz geleitete Arbeiterwohlfahrt u.v.m. gehören. Auch die gemeinsamen Feiern, etwa am 1. Mai eines jeden Jahres, stärken das Zusammengehörigkeitsgefühl. Doch je nach weltanschaulich-parteipolitischer Orientierung ist das Organisationsangebot aufgespalten: Für die einen ist der 1. Mai, für die anderen die Fronleichnamsprozession Teil des alltäglichen Lebens.
Durch die Spaltung der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung entwickelt sich in den 1920er Jahren neben der sozialdemokratischen und der katholischen Arbeiterkulturbewegung auch eine kommunistische Arbeiterkultur, die erst in Ansätzen zur Ausbildung eines eigenständigen kommunistischen Arbeitermilieus führt. Insgesamt aber zeigt sich in der Vielfalt der Arbeiterkulturbewegung doch die Lebendigkeit dieser schichtenspezifischen Kultur, deren organisatorische Kerne später von den Nationalsozialisten mit Gewalt zerstört werden.
Neues Lebensgefühl
Sozialer Fortschritt und politische Freiheiten vermitteln gerade in weiten Kreisen der Arbeiterschaft ein neues Lebensgefühl, wie es aus einem von Jürgen Kuczynski überlieferten Bericht eines Hüttenmannes aus dem Mansfelder Industriegebiet hervorgeht: „44 Jahre lang bin ich als Hüttenmann tätig gewesen und habe nur in den letzten Jahren nach 1920 die Vergünstigung eines Urlaubs kennengelernt. Selbst zu meiner Hochzeit durfte ich nur einen Tag der Arbeit fernbleiben, länger feiern war keinesfalls möglich. Der Begriff irgendwelcher Wohlfahrtseinrichtungen, die es heute gibt, war uns Arbeitern überhaupt nicht bekannt. Erst nach der Revolution von 1918 konnte der Arbeiter seine Meinung freier äußern. Zu dieser Zeit verschwand auch der Reichstreuen-Verein, der jahrzehntelang über uns gewacht hatte und uns das Nachdenken über die Ungerechtigkeiten dieser Welt abgenommen hatte, um uns zu zuverlässigen Stützen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung zu erziehen.“
Doch diese Stimmung verfliegt bald. In der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre ist von dem hoffnungsfrohen Aufbruch der frühen Weimarer Jahre nichts mehr zu spüren.