Auf gemeinsamen Kundgebungen, in Stellungnahmen und in der Tarifpolitik zeichnet sich die Bereitschaft der Richtungsgewerkschaften ab, sich gegenseitig anzuerkennen. Dennoch beharren die Christlichen Gewerkschaften unvermindert auf ihrer weltanschaulichen Eigenständigkeit.
„Christliche Gemeinschaftsidee“ gegen „mechanistisch-klassenkämpferischen Sozialismus“ und „materialistischen Mammonismus“ – das ist die Devise der Christlichen Gewerkschaften, mit der nicht zuletzt die Existenz der eigenen Verbände legitimiert wird. Außerdem geht es darum, die Geschlossenheit der Christlichen Gewerkschaftsbewegung zu bewahren, aus deren heterogener konfessioneller und parteipolitischer Zusammensetzung zentrifugale Kräfte erwachsen, die mit dem Feindbild des „Sozialismus” und der identitätsstiftenden Kraft der Berufung auf das Christentum gebunden werden sollen. Sinnfälligen praktischen Ausdruck findet dies im Programm von 1923, in dem „Die geistigen Grundlagen der christlich-nationalen Arbeiterbewegung” entwickelt wurden. Geradezu beschwörend wird formuliert: „Wir müssen in uns fühlen, dass wir andere Menschen sind. Wir denken anders, empfinden anders.” Darum könne es, so heißt es im Jahrbuch 1923, mit einer „anders gesinnten Bewegung” wohl Arbeitsgemeinschaften von Fall zu Fall geben, „aber nimmer eine Seelengemeinschaft, nimmer die Gemeinschaft einer Lebens- und Weltanschauung.”
Dieser Hinweise bedurfte es offenbar, um den christlichen Arbeitern auch weiterhin die Notwendigkeit eigener Gewerkschaften vor Augen zu führen. Obwohl sich Sozialdemokratie und Freie Gewerkschaften in Weltkrieg und zu Beginn der Weimarer Republik kaum als die konsequenten Verfechterinnen sozialistischer Ideen gezeigt haben. Trotzdem werden sie von den Christlichen Gewerkschaften immer an den Pranger gestellt, die Beteuerung parteipolitischer Neutralität – als Folge der SPD-Spaltung vom Nürnberger Kongress 1919 verabschiedet – wird als taktischer Trick der Freien Gewerkschaften denunziert. Auch der Rückgang anti-kirchlicher Stellungnahmen in der sozialdemokratischen Partei- und Gewerkschaftspresse wird als Verschleierungsmanöver gebrandmarkt.
Dennoch: Staatsbejahung, Wirtschaftsdemokratieprogramm und das Werben um katholische Arbeiter von Seiten der Sozialdemokratie und der Freien Gewerkschaften erschweren die Agitation der Christlichen Gewerkschaften. Diese verstärken die weltanschauliche Auseinandersetzung, um dem Trend entgegenzuwirken.
Trotz Annäherung keine Konsequenzen
Betrachten die Freien Gewerkschaften die Demokratisierung der Wirtschaft als Schritt auf dem Weg zum Sozialismus, so sehen die Christlichen Verbände in ihrem Konzept einen Beitrag zur „Standwerdung der Arbeiterschaft” als Voraussetzung der Bildung einer „organischen Volksgemeinschaft”. Die unterschiedlichen Zielvorstellungen beider Wirtschaftsdemokratie-Konzepte werden in den zeitgenössischen Diskussion indessen zunächst kaum betont: So betonen die Christlichen Gewerkschaften zum Hamburger ADGB-Kongress 1928, dass ihre Forderungen praktisch miteinander übereinstimmen. Zum gleichen Schluss kommen die Freien 1929 in ihrer Stellungnahme zum Frankfurter Kongress der Christlichen Gewerkschaften.
Konsequenzen werden dennoch nicht gezogen, zu einem gemeinsamen Gewerkschaftsprogramm kommt es nicht. Die Christlichen Gewerkschaften führen die geistige Auseinandersetzung weiter. Die 1923 erstmals erschienene Broschüre von Elfriede Nebgen über die „Geistigen Grundlagen der christlich-nationalen Arbeiterbewegung” wird 1928 neu aufgelegt. Auch Theodor Brauers Arbeit „Der moderne deutsche Sozialismus”, die 1929 auszugsweise im „Zentralblatt” abdruckt wird, dient der Verdeutlichung fortbestehender weltanschaulicher Differenzen und soll den auch in den Christlichen Gewerkschaften offenbar vorhandenen „Einheitsbestrebungen” entgegenwirken.