Nach dem II. Weltkrieg

Hoffnung auf "echte" Mitbestimmung

Bildercollage zur Ausstellung "Vom Wert der Mitbestimmung"

Sofort nach dem Einzug der alliierten Truppen werden im Frühjahr 1945 an zahlreichen Orten nicht nur Gewerkschaften, sondern auch Betriebsräte gegründet, die sich um die Wiederaufnahme der Produktion und auch um die Versorgung der Belegschaft mit Gütern des alltäglichen Bedarfs kümmern. Während in den westlichen Besatzungszonen die Betriebsräte ab 1946 wieder eine rechtliche Basis für ihre Arbeit haben, werden sie in der sowjetisch besetzten Zone nach Gründung des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB) bald von den Betriebsgewerkschaftsleitungen abgelöst. Diese sind in der Folgezeit zusammen mit dem FDGB in betriebliche und überbetriebliche Planungsvorgänge der zentralen Verwaltungswirtschaft der DDR eingebunden, bleiben aber stets den Vorgaben der SED-Partei- und Staatsführung nachgeordnet.

Als eine zentrale Lehre aus der Vergangenheit gilt den Gewerkschaftsgründern im Westen die Notwendigkeit, die wirtschaftliche Macht gesellschaftlicher Kontrolle zu unterwerfen. Hans Böckler bringt es auf die Formel: „Wir müssen in der Wirtschaft selber als völlig gleichberechtigt vertreten sein, nicht nur in einzelnen Organen der Wirtschaft, nicht in den Kammern der Wirtschaft allein, sondern in der gesamten Wirtschaft.“ Unter dem Druck der Demontagen und der Furcht vor weitgehenden wirtschaftlichen Umbaumaßnahmen sind führende Unternehmer im Westen Deutschlands bereit, die Mitbestimmungsforderung der Gewerkschaften zu akzeptieren, die überdies die Rückendeckung vor allem der britischen Besatzungsbehörden hatte.

Der Gründungskongress des DGB 1949 fordert in seinen „Wirtschaftspolitischen Grundsätzen“ sowohl den Ausbau der betrieblichen Mitbestimmung als auch der Unternehmensmitbestimmung und der überbetrieblichen Mitbestimmung. Diese Forderungen sind eingebunden in ein Gesamtkonzept zur Umgestaltung des Wirtschaftssystems durch Sozialisierung von Schlüsselindustrien, Kartellkontrolle und Planwirtschaft.

Wirtschaftspolitische Grundsätze des Deutschen Gewerkschaftsbundes Oktober 1949 (pdf)

Doch mit Durchsetzung des Konzepts der Sozialen Marktwirtschaft stabilisieren sich die gesellschaftlichen Machtverhältnisse. Daran scheitern die weit gesteckten Reformvorstellungen der Gewerkschaften. Die Forderung nach einer grundsätzlichen Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft verschwindet von der politischen Tagesordnung. Angesichts des wirtschaftlichen Aufschwungs in den Westzonen und des Zwangssystems in der sowjetischen Besatzungszone lässt die öffentliche Zustimmung zu Alternativen zum Konzept der Sozialen Marktwirtschaft nach. Dennoch gelingt es den Gewerkschaften Anfang der 1950er Jahre, einige Mitbestimmungsforderung durchzusetzen. In der Zukunft erweist sich die Mitbestimmungsforderung als starke Klammer für die 1945 entstandenen Einheitsgewerkschaften.

1951: Ein Meilenstein

Im Jahr 1951 wird die Montanmitbestimmung gesetzlich verankert. Ein Selbstläufer ist das nicht. Es bedarf der Urabstimmungen, um die Montanmitbestimmung gesetzlich zu verankern. Erst als sich 90 Prozent der Gewerkschafter in der Schwerindustrie für Streik aussprechen, lenkt die Regierung ein. Das Gesetz, das dann verabschiedet wird, ist ein Meilenstein in der Geschichte der Mitbestimmung – bis heute: Die Aufsichtsräte großer Montanunternehmen werden mit Arbeitgeber- und Arbeitnehmervertretern paritätisch besetzt. Die Bestellung des Arbeitsdirektors ist nur mit Zustimmung der Arbeitnehmerseite möglich

Nach diesem Erfolg setzen die Gewerkschaften darauf, ähnliche Regelungen für die Gesamtwirtschaft durchsetzen zu können. Doch allein die Tatsache, dass es sich bei der paritätischen Mitbestimmung um eine Sonderregelung für die Montanindustrie handelt, signalisiert, dass die Ausweitung dieser Form der Mitbestimmung kaum für alle Großunternehmen gelingen wird. Die Verabschiedung des Betriebsverfassungsgesetzes von 1952 bestätigt das: Es bleibt weit hinter dem Gesetz zu Montanmitbestimmung zurück. Betriebsräte haben nur eingeschränkte Mitwirkungsrechte in personellen und sozialen Angelegenheiten, im Aufsichtsrat von Großunternehmen sind nur ein Drittel der Sitze für Arbeitnehmervertreter reserviert. Als dann 1955 mit dem Personalvertretungsgesetz eine noch schlechtere Regelung für den Öffentlichen Dienst verabschiedet wird, ist die Enttäuschung bei den Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern groß.

Die Beschränkung der paritätischen Mitbestimmung auf den Montanbereich wird von manchen Unternehmern als Einladung angesehen, die Mitbestimmungsregelung durch den Umbau der Konzerne auszuhebeln. Doch mit immer neuen Gesetzen, so der Holding-Novelle 1956, dem Mitbestimmungssicherungsgesetz 1967 und dem Mitbestimmungsfortgeltungsgesetz 1971, wird die Montanmitbestimmung auch in Zeiten des Strukturwandels gesichert.

1968: Rückenwind von der neuen Regierung

Auf der Linie des 1963 verabschiedeten Grundsatzprogramms und beflügelt vom politischen Reformklima in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre, unternehmen die Gewerkschaften einen neuen Versuch, die paritätische Mitbestimmung auf alle Großunternehmen auszudehnen.

DGB-Grundsatzprogramm 1963 (pdf)

Die Regierung der Großen Koalition erteilt 1968 den Auftrag, die Erfahrungen mit der Montanmitbestimmung zu erheben. Angesichts der Bewährungsproben im Strukturwandel des Montanbereichs kommt das Gutachten, das der sozial-liberalen Regierung übergeben wird, zu einem positiven Ergebnis. Dennoch dauert es lange, bis sich die Regierung auf einen Kompromiss einigt. Im Jahr wird 1972 das Betriebsverfassungsgesetz reformiert. Die Betriebsräte bekommen mehr Mitwirkungsrechte, doch auch diesmal bleibt das Gesetz hinter den Hoffnungen der Gewerkschaften zurück. Das gilt auch für das neue Personalvertretungsgesetz, das 1974 in Kraft tritt.

Erst 1976 folgt nach heftigen Kontroversen auch zwischen den Koalitionspartnern das Mitbestimmungsgesetz, das eine spezielle Form der Parität von Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern im Aufsichtsrat von (ohne Montanindustrie) Großunternehmen vorsieht: Zum einen nehmen auf der Arbeitnehmerbank auch Vertreter der Leitenden Angestellten Platz; zum anderen verfügt der von der Kapitalseite gestellte Aufsichtsratsvorsitzende bei Stimmengleichheit über eine den Ausschlag gebende Zweitstimme.

Die Arbeitgeber reichen gegen das Gesetz Klage beim Bundesverfassungsgericht ein. Die Gewerkschaften nehmen das zum Anlass, aus der Konzertierten Aktion auszutreten. Das Bundesverfassungsgericht bestätigt in seinem Urteil vom 1. März 1979 die Funktion der Unternehmensmitbestimmung: Sie habe „die Aufgabe, die mit der Unterordnung der Arbeitnehmer unter fremde Leitungs- und Organisationsgewalt in größeren Unternehmen verbundene Fremdbestimmung durch die institutionelle Beteiligung an den unternehmerischen Entscheidungen zu mildern und die ökonomische Legitimation der Unternehmensleitung durch eine soziale zu ergänzen“. Die Arbeitgeber sind abgeblitzt.

Danach wird es erst einmal still um die Mitbestimmungsforderung: Zwar legt der DGB 1982 einen neuen Gesetzentwurf über die Mitbestimmung in Großkonzernen und Großunternehmen vor. Doch zunächst gelingt es nur, eine Verlängerung der Auslaufzeiten in der Montanmitbestimmung durchzusetzen. Mit der Reform des Betriebsverfassungsgesetzes 1988 werden dem Betriebsrat dann erweiterte Rechte bei der Einführung neuer technischer Anlagen zugesprochen. Die rot-grüne Bundesregierung vereinfacht 2001 das Betriebsratswahlverfahren; 2004 wird die Regelung des Betriebsverfassungsgesetzes zur Mitbestimmung auf Unternehmensebene durch das Drittelbeteiligungsgesetz abgelöst, das die Zusammensetzung der Aufsichtsräte in Betrieben mit über 500 Beschäftigten regelt.

1990: Mitbestimmungsrechte in Europa

Die wirtschaftliche Verflechtung im Zuge der europäischen Einigung erfordert spätestens seit den 1990er Jahren eine Klärung der rechtlichen Rahmenbedingungen für die Mitbestimmungsrechte in Europa. Zugleich geht es den deutschen Gewerkschaften auch darum, das deutsche Mitbestimmungsmodell zu erhalten. 1994 werden mit der Richtlinie „Über die Einrichtung Europäischer Betriebsräte in Europaweiten Unternehmen“ und 2002 mit der Gemeinsamen Richtlinie der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer in europäischen Betrieben und Unternehmen grob umrissen. Auf der Basis einer Richtlinie aus dem Jahr 2009 wird das Recht der Europäischen Betriebsräte mit dem Gesetz über Europäische Betriebsräte, das am 18. Juni 2011 in Kraft tritt, novelliert. Darin wird festgelegt, dass der Europäische Betriebsrat in allen sozialen und personellen Fällen, in denen er anzuhören ist, Gelegenheit zu einer Stellungnahme bekommen soll, und zwar auch schon zu „vorgeschlagenen Maßnahmen“. Parallel dazu wird das Recht der Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea: SE) entwickelt, wobei die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer im Dezember 2004 mit einem eigenen Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer in einer Europäischen Gesellschaft festgeschrieben werden. Damit werden für die Unternehmens-Ebene Mitbestimmungsregeln entworfen, die einen Rahmen für nationalstaatliche Gesetze bieten, deren Ausformung indessen hinter dem deutschen Mitbestimmungsstandard zurückbleiben kann.

2016: Bewährungsprobe

Im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts beginnen Globalisierung und Digitalisierung, Wirtschaft und Gesellschaft dramatisch zu verändern. Die Folgen dieses Wandels werden in Deutschland zwar zunächst durch die Aufgabe, die deutsche Einheit zu meistern, in den Hintergrund gedrängt. Doch spätestens seit der Jahrtausendwende zeigt sich, dass die Gewerkschaften erneut vor der Herausforderung stehen, die betrieblichen und überbetrieblichen Mitbestimmungsrechte zu sichern. Angesichts internationaler Kapitalverflechtungen und der zunehmenden Zahl von Großunternehmen, die zwar in Deutschland operieren, ihren Hauptsitz aber im Ausland haben, stehen die Mitbestimmungsrechte auf dem Spiel. Hinzu kommt, dass immer mehr Unternehmen aus den Arbeitgeberverbänden austreten und damit die Tarifbindung für die Beschäftigten wegfällt. Auch häufen sich die Fälle, in denen Unternehmen die Wahl von Betriebsräten be- oder verhindern.

Die viel beschworene Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften steht vor einer schweren Bewährungsprobe.

Nach der Revolution 1848: Die ersten Arbeiterausschüsse
Weimarer Republik: Erste Erfolge in der Mitbestimmung
Nazi-Diktatur: Betriebsräte werden aufgelöst
Nach dem II. Weltkrieg: Hoffnung auf "echte" Mitbestimmung

Zeittafel: Stationen der Mitbestimmung
2016 - Jahrestage der Mitbestimmung

Literaturhinweis:
Werner Milert u. Rudolf Tschirbs, Die andere Demokratie. Betriebliche Interessenvertretung in Deutschland, 1848 bis 2008, Essen 2012

Quelle der Zeittafel:
Internetseite der Hans-Böckler-Stiftung  mit umfassenden Themen zur Mitbestimmung heute und gestern 

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