Die 1990er Jahre sind schwierige Zeiten für die Tarifpolitik. Egal, mit welcher Forderung die Gewerkschaften antreten, Arbeitgeber und (fast alle) Medien blasen in das gleiche Horn: Unannehmbar! Die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft stehe auf dem Spiel, Arbeitsplätze, ganz besonders in den Neuen Bundesländern, seien gefährdet.
Zwar gehören diese Reaktionen seitens der Arbeitgeber seit jeher zum Tarifritual. Dennoch: Die Schärfe, mit der die Arbeitgeberverbände in diesen Jahren die gewerkschaftlichen Forderungen ablehnen, macht deutlich, es geht ihnen nicht nur darum, sich in eine gute Verhandlungsposition zu bringen. Sie wollen tarifliche Leistungen auf breiter Front abbauen und durch sogenannte Öffnungsklauseln den Betrieben die Möglichkeit geben, vom Tarif abweichende Regelungen zu treffen. Flächentarifverträge, so ihr Credo, seien zu wenig flexibel und daher nicht mehr zeitgemäß.
Und sie schaffen Fakten: Viele Arbeitgeber treten aus den Arbeitgeberverbänden aus und entziehen sich damit der Tarifbindung. Um diese Austrittswelle zu stoppen, ermuntert Hans-Olaf Henkel, Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), die westdeutschen Arbeitgeber im Jahr 1997 ganz offiziell, im Verband zu bleiben und stattdessen gegen den Flächentarifvertrag zu verstoßen – so wie viele ostdeutsche Betriebe. Der Westen könne in dieser Frage von der „ostdeutschen Beweglichkeit” lernen.
Die Gewerkschaften lehnen solche Öffnungsklauseln strikt ab. Sie fürchten um den Bestand der Flächentarifverträge. Doch verhindern können sie diese Entwicklung nicht. Selbst in Branchen, für die keine Öffnungsklausel vereinbart ist, verliert der Flächentarifvertrag an Bedeutung. Um den Abbau von Arbeitsplätzen zu verhindern, werden in vielen Betrieben vom Tarifvertrag abweichende Regelungen getroffen, Weihnachts- und Urlaubsgeld werden gekürzt, die Arbeitszeiten verlängert. Nicht selten ohne das Wissen der Gewerkschaften.
Bescheidene Lohnerhöhungen
Doch trotz dieser schwierigen Bedingungen lassen sich die Gewerkschaften nicht in die Defensive drängen. Ein „Lohnopfer” der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer im Westen zugunsten der Beschäftigten in den Neuen Bundesländer lehnen sie ab. Sie fordern vielmehr eine stufenweise Angleichung des Lohnniveaus. Die Stärkung der Massenkaufkraft, so ihre Begründung, trage zur Wirtschaftsbelebung bei.
Aber sie sind auch bereit, ihre Lohnforderungen zugunsten von Beschäftigungszusagen der Arbeitgeber zu begrenzen. So schlägt Klaus Zwickel, der Vorsitzende der IG Metall, ein Moratorium in der Lohnpolitik vor, wenn dafür im Gegenzug der Beschäftigungsabbau gestoppt wird (1993 und erneut 1995). Auf dieser Linie liegt auch das Angebot von Heinz-Werner Meyer vom Mai 1994, sich beim Lohn zurückzuhalten, wenn dafür erkennbare arbeitsmarktpolitische Maßnahmen ergriffen werden. Im März 1996 vereinbart die von Hermann Rappe geführte IG Chemie einen „Solidarpakt für Standort und Beschäftigungsförderung”: Bei nur zwei Prozent Lohnerhöhung verpflichten sich die Arbeitgeber zum Stopp des Personalabbaus vom 1. Juli 1996 an. Außerdem sollen binnen eines Jahres 25.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Im Dezember 1996 werden in einem Tarifvertrag für die chemische Industrie die Beibehaltung der Lohnfortzahlung im Krankheitsfall und im Gegenzug eine Absenkung des 13. Monatsgehalts um fünf Prozent vereinbart. Und im Juni 1997 wird für die Chemieindustrie ein Tarifvertrag geschlossen, der es aus Wettbewerbsgründen oder bei Betrieben in wirtschaftlichen Schwierigkeiten erlaubt, bei einer Beschäftigungsgarantie die Löhne und Gehälter um bis zu 10 Prozent abzusenken.
Leichte Erholung
Um die Jahrhundertwende entspannt sich die wirtschaftliche Situation etwas, die IG Metall, deren Tarifvereinbarungen als Orientierung für andere Branchen gelten, verkündet das „Ende der Bescheidenheit“ und fordert im Jahr 2000 eine Lohnerhöhung von fünf Prozent. ÖTV und die meisten anderen Gewerkschaften schließen sich an. Gleichzeitig fordern sie eine stufenweise Angleichung der Tarifeinkommen zwischen Neuen und Alten Bundesländern und den Einstieg in die „Rente mit 60”. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Die Tarifabschlüsse liegen erstmals seit Jahren über der Inflationsrate.
Doch die Bruttolohnsteigerungen reichen nicht aus, um die Kaufkraft der Erwerbstätigen nachhaltig zu stärken, die Realeinkommen bleiben in den folgenden Jahren in etwa auf demselben Niveau wie 2000, die Lohnquote geht weiter zurück.
Viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer sind unzufrieden mit den mageren Lohnzuwächsen, insbesondere in den Neuen Bundesländern. Die Annäherung der Einkommens- und Lebensverhältnisse zwischen Ost und West geht nur langsam voran. Doch die Gewerkschaften stecken in einem Dilemma: Sind die Lohnabschlüsse moderat, so führt das zu Enttäuschung und Vertrauensverlust bei den Arbeitnehmern, sind sie relativ hoch, so führt das zu Arbeitsplatzabbau. Zwar werden die Gewerkschaften nicht müde, darauf hinzuweisen, dass Lohnhöhe und Arbeitslosigkeit nichts miteinander zu tun haben, dennoch beherzigen sie den Produktivitätsfortschritt als Orientierungsmarke für die Lohnpolitik. Dank der sinkenden Inflationsrate werden seit der Jahrhundertwende nach und nach Reallohnsteigerungen erreicht.
Lohndifferenz besteht fort
Noch immer besteht eine Differenz zwischen den Einkommen von Männern und Frauen. Sieht man von den Unterschieden in Qualifikation, ausgeübtem Beruf und Arbeitszeit ab, so erreicht das Einkommen von Frauen – je nach Erhebung – zwischen 75 und 80 Prozent des Einkommens der Männer. Selbst wenn man diese Faktoren berücksichtigt und „nur“ die Tätigkeit selbst betrachtet, liegen die Fraueneinkommen für dieselbe Arbeit – wiederum je nach Erhebung – zwischen 2 und 10 Prozent unter denen der Männer. Die höhere Differenz weist eine Untersuchung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft aus dem Jahre 2010 aus, die niedrige Prozentangabe nennt eine Studie des Instituts der Deutschen Wirtschaft aus dem Jahre 2013.
In Zahlen sieht das so aus: Der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst im produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich steigt von 1990 bis 2014 bei den Männern von 2.010 auf 3.728 € und bei den Frauen von 1.440 auf 3.075 €.
Weitere Verkürzung der Arbeitszeit
Nachdem Metall- und Druckindustrie im Jahr 1984 mit einem siebenwöchigen Arbeitskampf das Tabu der Arbeitgeber gebrochen und die Verkürzung der Arbeitszeit um 1,5 Stunden pro Woche geschafft haben, steht Anfang der 1990er Jahren die Forderung nach Einführung der 35-Stunden-Woche wieder im Mittelpunkt. Die weitere Verkürzung der Arbeitszeit soll dazu beitragen, die Arbeit gerechter zu verteilen und die Zahl der Arbeitslosen zu verringern. Und das gelingt: In einzelnen Branchen wird der stufenweise Einstieg in die 35-Stunden-Woche vereinbart, etwa für die Metallindustrie Nordbaden-Nordwürttemberg, die Druckindustrie, für VW, Opel und BMW – um nur ein paar Beispiele zu nennen. Hand in Hand mit der Einführung der kürzeren Wochenarbeitszeit halten flexiblere Arbeitszeitregelungen in den Betrieben Einzug, z.B. Stafetten- und Blockmodelle.
Der Weg für flexible Arbeitszeiten wird noch unter der Regierung Kohl durch die Änderung des Arbeitszeitgesetzes im Jahr 1994 erleichtert. Die Knackpunkte des neuen Gesetzes: Die Arbeitszeit kann von acht auf zehn Stunden pro Tag verlängert, die Mehrarbeit von Montag bis Samstag muss innerhalb von sechs Monaten (bisher zwei Wochen) ausgeglichen werden. Sonn- und Feiertagsarbeit ist möglich, wenn ein Betrieb dies zur Erhaltung der internationalen Konkurrenzfähigkeit braucht. Sie wird aber nur genehmigt, wenn der Betrieb von Montag bis Samstag bereits rund um die Uhr arbeitet und ausländische Konkurrenten ebenfalls sonntags arbeiten. In der Regel muss jeder Arbeitnehmer – bis auf Ausnahmen bei der Polizei, in Krankenhäusern, Hotels usw. – an mindestens 15 Sonntagen im Jahr arbeitsfrei haben. Am Sonntag darf nicht länger als zehn Stunden gearbeitet werden. Sonntagsarbeit muss innerhalb von zwei Wochen mit Freizeit ausgeglichen werden. Die speziellen Beschäftigungsverbote für Frauen werden aufgehoben.
Dieses neue Arbeitszeitgesetz ist das Einfallstor für flexible Arbeitszeiten und die Ausweitung der Nacht- und der Wochenendarbeit. Und es dient den Arbeitgebern dazu, Überstundenzuschläge zu sparen, zum Beispiel dadurch, dass Samstagsarbeit als Regelarbeitszeit eingestuft werden kann.
Doch das ist den Arbeitgebern nicht genug: Sie wollen wieder weg von der bereits vereinbarten 35-Stunden-Woche. Die meisten Gewerkschaften weisen dieses Ansinnen zurück. Die Verlängerung der Arbeitszeit sei, so IG Metall-Chef Jürgen Peters im Juni 2004, eine „Jobvernichtungsmaschine“. Im Februar 2006 streiken die Beschäftigten des Öffentlichen Diensts und verhindern, dass die Arbeitszeit wieder verlängert wird.
Damit ist das Thema erstmal vom Tisch. Doch abgefunden haben sich die Arbeitgeber damit nicht. Im Juni 2015, in der Debatte über eine EU-Arbeitszeitrichtlinie, fordern sie eine Wochenarbeitszeit von 48 Stunden ohne feste Verteilung auf die Arbeitstage. Und im Dezember 2015 erneuert Ingo Kramer, der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), die Forderung, das deutsche Arbeitszeitgesetz so zu ändern, dass die Arbeitszeit flexibel auf die Arbeitstage verteilt werden kann, ohne die Wochenarbeitszeit insgesamt zu erhöhen. Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann lehnt diesen Vorschlag im Namen der Gewerkschaften ab.
Durchbruch für flexible Arbeitszeiten
Die Gewerkschaften stehen allen Versuchen, Arbeitszeiten flexibel zu gestalten, zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber. Aus ihrer Sicht profitieren davon ausschließlich die Arbeitgeber, die dadurch, je nach Bedarf, den Einsatz von Arbeitskräften planen können. Doch Mitte der 1990er öffnen sich die Gewerkschaften. Sie erkennen, dass es flexible Arbeitszeitmodelle gibt, die auch für Erwerbstätige interessant sind. Zum Beispiel, wenn man Überstunden ansammelt, um für ein paar Monate oder ein Jahr Urlaub zu machen. Oder um früher ganz aus dem Erwerbsleben auszusteigen.
Mit dem Altersteilzeitgesetz vom 23. Juli 1996 nehmen solche Überlegungen erstmals konkrete Formen an. Danach haben Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab dem 55. Lebensjahr die Möglichkeit, sich einen gleitenden Übergang in die Rente zu schaffen. Ab dem 60. Lebensjahr haben sie einen Rechtsanspruch darauf, in Altersteilzeit zu gehen. um damit einen Beitrag zum gleitenden Übergang in den Ruhestand, aber auch eine „Beschäftigungsbrücke” zwischen älteren Arbeitnehmern und jüngeren Arbeitsuchenden zu schaffen. In mehreren Tarifverträgen wird diese Regelung verbessert, um die Einkommenseinbußen, die unabhängig vom Modell der Altersteilzeit – ob auf Wochenbasis oder als Blockmodell – eintreten, zu verringern. Die 2007 beschlossene Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die „Rente mit 67“, hebt den Arbeitsmarkteffekt der Altersteilzeitregelungen vielfach auf und trifft auf heftige Kritik der Gewerkschaften. Die 2014 geschaffene Möglichkeit, nach 45 Arbeitsjahren abschlagsfrei mit 63 Jahren in Rente zu gehen, wird von den Gewerkschaften begrüßt.
Die gewerkschaftliche Arbeitszeitpolitik ist, bezogen auf die Wochenarbeitszeit, insgesamt erfolgreich: Die durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit in der Industrie bzw. im produzierenden Gewerbe sinkt in der Alten Bundesländern von 40,9 im Jahre 1984 auf 37,8 Stunden im Jahre 1998. In den Neuen Bundesländern liegt sie durchweg höher: Sie beträgt 1991 40,7 und 1998 39,7 Stunden pro Woche. Ab 2005 stabilisiert sich die Arbeitszeit in den Alten Bundesländern bei 37,5 und in den Neuen Bundesländern bei 38,7 Stunden pro Woche.
Die Durchschnittswerte verschleiern allerdings die Abweichungen, die es von Branche zu Branche und von Betrieb zu Betrieb gibt. Oftmals liegt die tatsächlich geleistete Arbeitszeit weit über den tariflich vereinbarten bzw. gesetzlich festgeschriebenen Höchstgrenzen. Außerdem wächst die Anzahl der (schein-)selbstständigen Arbeitnehmer, die im heimischen Büro weder tariflichen noch gesetzlichen Arbeitszeitregelungen unterworfen sind.