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Der lange Weg zur Gleichstellung: Gender-Gerechtigkeit und Gewerkschaften
Ende des 19./Anfang des 20. Jahrhunderts ist die Beziehung zwischen Gewerkschaften und Frauen ambivalent: Frauen sind als Mitglieder zwar willkommen, doch die politischen Entscheidungen treffen die Männer. Es dauert lange bis sich das ändert. Erst in den 1970er Jahren wird das Verhältnis spürbar besser: Auch in den Gewerkschaften sind die Frauen auf dem Vormarsch. Doch nicht alle Ziele sind erreicht.
Die Anfänge am Ende des 19. Jahrhunderts
Für die Gewerkschaften stellt sich in den Gründungsjahren das Problem, dass sie, wenn sie vermehrt Frauen für die Mitgliedschaft gewinnen wollen, zunächst die rechtlichen und auch die mentalen Voraussetzungen für die Gewerkschaftsarbeit von Frauen verändern müssen. Sie treten von Anfang an für die Gleichberechtigung der Frauen ein: Sie fordern, Frauen die Mitarbeit in politischen Vereinen und die Teilnahme an Wahlen zu ermöglichen. Sie setzen sich ein für betriebliche Schutzvorschriften wie Mutterschutz, Verbot von Nachtarbeit und anderen Regelungen, um die Gefahren am Arbeitsplatz zu verringern.
Die Hürden für Frauen, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden, sind im 19. Jahrhundert hoch. Nicht nur, weil ihnen bis 1908 die Mitarbeit in politischen Vereinen untersagt ist, sondern auch weil manche Vorbehalte überwunden werden müssen. Frauen haben vielfach wenig Interesse, sich in einer Gewerkschaft zu organisieren. Sie empfinden ihre Erwerbsarbeit als etwas Vorübergehendes und haben daher kaum Veranlassung, sich für bessere Arbeitsbedingungen stark zu machen. Und auch die männlichen Kollegen müssen umdenken: Frauen sind als Mitglieder zwar willkommen, doch in den Gewerkschaftsführungen haben die Männer das Sagen.
Die Gewerkschaften selbst müssen sich also ändern. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wird die Arbeit für und mit Frauen verstärkt: Da geht es zunächst einmal um die Frauenagitation. Darauf können sich die männlichen Gewerkschafter, eben zur Vermeidung von weiblicher „Lohndrückerei“, noch recht gut verständigen. Zeitschriften speziell für Frauen werden herausgegeben. Und in bereits bestehenden Gewerkschaften, z.B. im Fabrikarbeiterverband, werden Frauensekretariate und in der Generalkommission ein Arbeiterinnensekretariat gebildet; dessen Leitung übernimmt Ida Altmann. Auch werden spezielle Frauenverbände, wie der Verein der Arbeiterinnen an Buch- und Steindruck-Schnellpressen und der Zentralverein der Fabrik- und Handarbeiterinnen Deutschlands, gegründet. Und Frauen beteiligen sich an Arbeitskämpfen, so die Textilarbeiterinnen 1903/04 in Crimmitschau.
Doch die Mitgliedsbeiträge werden um 1900 noch gestaffelt nach Geschlecht festgesetzt. Abgesenkte Frauenbeiträge sind als Werbemaßnahme gedacht. Sie führen aber dazu, dass die Unterstützungsleistungen, die von der Beitragshöhe abhängen, niedriger als bei Männern ausfallen. Frauen, die sich z.B. an Streikaktionen beteiligen, werden also schlechter gestellt als ihre Kollegen. So wird die Stellung des Mannes als Hauptverdiener gestärkt. Als erste Gewerkschaft führt der von Paula Thiede geführte Verband der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -arbeiterinnen Deutschlands 1905 ein, dass die Beiträge allein nach der Lohnhöhe gestaffelt werden.
Der Frauenanteil an der Mitgliedschaft beträgt bei den Gewerkschaften aller Richtungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts um die 10 %. Zu diesem Zeitpunkt sind ein Drittel aller Erwerbstätigen Frauen. Allerdings werden Frauen nur sehr vereinzelt in Führungspositionen gewählt. Zu erinnern ist an Emma Ihrer und Wilhelmine Kähler in der Generalkommission der Freien Gewerkschaften und an Paul Thiede, die Vorsitzende des Verbandes der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -arbeiterinnen Deutschlands, sowie an Margarete Behm, die Gründerin des zu den Christlichen Gewerkschaften gehörenden Gewerkvereins der Heimarbeiterinnen Deutschlands. Paula Thiede kandidiert jedoch viermal – 1902, 1905, 1908 und 1911 – erfolglos für einen Sitz in der Generalkommission. Als Angestellte der Generalkommission sind noch die beiden Leiterinnen des Arbeiterinnensekretariats der Generalkommission zu nennen: Ida Altmann und ihre Nachfolgerin Gertrud Hanna.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts arbeiten gerade die Gewerkschafterinnen oftmals „grenzüberschreitend“ zusammen. So treffen sich Freie und Christliche Gewerkschafterinnen mit Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung (und Angehörigen des Vereins für Socialpolitik) ab 1904 zu mehrere Heimarbeiterschutz-Konferenzen.
Und im März 1911 organisieren SPD und Freie Gewerkschaften erstmals Veranstaltungen zum Internationalen Frauentag, um den Forderungen nach einem Wahlrecht für Frauen, dem Acht-Stunden-Tag und einer Verbesserung des Mutterschutzes Nachdruck zu verleihen. Danach sind die jährlichen Veranstaltungen zum Internationale Frauentag fester Bestandteil der Frauenpolitik der Gewerkschaften.
Biographien
Wilhelmine Kähler
Gertrud Hanna
Emma Ihrer
Ida Altmann
Paula Thiede
Die 1920er Jahre: Auf „Frauenthemen“ abgedrängt
Die Sichtbarkeit von Frauen in den Gewerkschaften, die ja ohnehin nicht sehr ausgeprägt ist, nimmt nach dem Ersten Weltkrieg jedoch ab. Die Gewerkschaften unterstützen die Verdrängung von Frauen aus dem Erwerbsleben, damit die Arbeitsplätze den Männern, die aus dem Krieg zurückkehren, zur Verfügung gestellt werden können. Insgesamt tritt das Thema „Gewerkschaften und Frauen“ in den 1920er Jahren eher in den Hintergrund. Die Gewerkschafterinnen aller Richtungen werden (wie die Politikerinnen) auf „Frauenthemen“ abgedrängt – auch wenn sie sich ausdrücklich dagegen wehren. Sie sind wichtige Ratgeberinnen, wie Elfriede Nebgen von den Christlichen Gewerkschaften. Aber sie gelangen nicht in gewerkschaftliche Führungspositionen.
Wie nach dem Ende des Ersten Weltkrieges unterstützen die Gewerkschaften während der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre die Bemühungen, z.B. durch die Agitation gegen das „Doppelverdienertum“, vor allem die männlichen Arbeitnehmer vor Arbeitslosigkeit zu bewahren.
Hören: Marie Juchacz
Ansprache der sozialdemokratischen Abgeordneten zur Bedeutung des Frauenwahlrechts und der veränderten Lage der Frauen, gehalten zur Reichstagswahl 1928.
© SPD/FES
Im Widerstand gegen die NS-Diktatur
Auch wenn die Führungspositionen in den Gewerkschaften in den 1920er/30er Jahren vorwiegend von Männern besetzt sind, so sind nicht wenige Frauen aus der zweiten und dritten Reihe zu nennen, die im Widerstand gegen die NS-Diktatur aktiv sind. Da geht es keineswegs „nur“ um Hilfstätigkeiten wie Flugschriften „abtippen“ oder „dem Mann den Rücken freihalten“. Vielmehr beteiligen sich auch Frauen an der Organisation der Widerstandsarbeit, leisten Kurierdienste, sichern Treffpunkte ab und übernehmen die Versorgung von untergetauchten Widerstandskämpfern. Stellvertretend genannt seien: Lisy Alfhart (Zentralverband der Angestellten/Internationaler Sozialistischer Kampfbund), Frieda Apelt (RGO/KPD), Gertrud Hanna (Freie Gewerkschaften/SPD) und Clara Sahlberg (Christliche Gewerkschaften/Christlich-Sozialer Volksdienst). Und zu erinnern ist an Margarete Daene, die zusammen mit ihrem Ehemann Wilhelm Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen unterstützt sowie Juden und Jüdinnen vor der Deportation bewahrt.
Biographien
Gertrud Hanna
Margarete Daene
Immer noch aktuell: Gender-Gerechtigkeit
Nach dem Ende von Krieg und Diktatur gehen die beiden deutschen Staaten zunächst unterschiedliche Wege, was die Anerkennung der Erwerbstätigkeit von Frauen anlangt. Während in der Bundesrepublik der 1950er/60er Jahre die traditionelle Rollenverteilung zwischen Männern und Frauen vorherrscht, wird in der DDR die Frauenerwerbstätigkeit nicht nur propagiert, sondern durch eine Reihe von Maßnahmen von der Ausbildung bis zur Kinderbetreuung gefördert. Den unterschiedlichen Systembedingungen in Ost und West entsprechen unterschiedlich hohe Anteile von Frauen an der Erwerbstätigkeit und an der Gewerkschaftsmitgliedschaft. Doch schaut man auf die Anzahl von Frauen in Spitzenpositionen der Gewerkschaften, so bleibt diese im DGB und seinen Gewerkschaften ebenso wie im FDGB lange Jahre niedrig. Erst in den letzten Jahren, insbesondere nach dem Zusammenschluss der FDGB-Verbände und der DGB-Gewerkschaften, zeichnet sich eine Verbesserung ab.
Auch wenn Frauen in den 1950er/60er Jahren nicht entsprechend ihrem Anteil an der Erwerbsbevölkerung in den Gewerkschaften vertreten sind und auch wenn sie nicht entsprechend ihrem Anteil an der Gewerkschaftsmitgliedschaft Führungspositionen innehaben, so bedeutet das nicht, dass die traditionellen Frauenthemen von den Gewerkschaften missachtet werden: Ob in Fragen des Arbeitsschutzes und der Arbeitszeit oder auch der Sozialversicherung – stets kümmern sich die Gewerkschaften in „West“ und „Ost“ um die besonderen Interessen von Frauen.
In den 1970er/80er Jahren ist Gleichstellungspolitik auch im „Westen“ in allen Gewerkschaften angekommen: Genderpolitik ist keine „Frauendomäne“, sondern als Querschnittsaufgabe gewerkschaftlicher Politik anerkannt. Dieser Trend wird nach der Deutschen Einheit noch verstärkt: Es geht nicht mehr allein um Arbeitsschutz und Lohngerechtigkeit, sondern auch um die gezielte Förderung von Qualifikation und beruflichem Aufstieg von Frauen – bis in die Leitungsgremien von Betrieben bzw. Unternehmen und auch von Gewerkschaften.
Ein „Jahrhundertthema“ bleibt jedoch die Frage der Lohngerechtigkeit: Die Gewerkschaften sind angetreten mit der Devise „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“. Doch weder in der Bundesrepublik Deutschland noch in der DDR wird diese Maxime wirklich durchgesetzt. Und das gilt auch im vereinten Deutschland. „Gender Pay Gap“ ist nach wie vor ein aktuelles Thema.
Erst in den letzten Jahren rückt das Thema „Gewalt gegen Frauen“ ins Blickfeld der Gewerkschaften. Das Thema (sexualisierte) Gewalt, etwa gegen Kellnerinnen und Hausgehilfinnen, wird bis ins erste Drittel des 20. Jahrhunderts allenfalls in den Zeitschriften für die angesprochenen Berufsgruppen angesprochen. In jüngerer Zeit wird es mit der Kampagne „Nein heißt Nein“ aufgegriffen. Vor allem im Zuge der „Me Too“-Bewegung seit 2017 befassen sich Gewerkschaften intensiver mit diesem Thema.
Deutscher Gewerkschaftsbund, Abteilung Frauen-, Gleichstellungs- und Familienpolitik (Hrsg.), Höchste Zeit für Frauen. Arbeitszeit als gleichstellungspolitische Herausforderung, Berlin, Oktober 2016
Deutscher Gewerkschaftsbund, Abteilung Frauen-, Gleichstellungs- und Familienpolitik (Hrsg.), Keine Lust auf Nebenjobs im Alter?! Rente muss zum Leben reichen - auch für Frauen, Berlin, Dezember 2016
Deutscher Gewerkschaftsbund, Abteilung Frauen-, Gleichstellungs- und Familienpolitik (Hrsg.), Geschlechterperspektive im Arbeitsschutz. Auch Frauen wirksam schützen, Berlin, Juli 2016
Fuhrmann, Uwe, „Frau Berlin“ – Paula Thiede (1870-1919). Vom Arbeiterkind zur Gewerkschaftsvorsitzenden, Konstanz 2019
Fuhrmann, Uwe, Feminismus in der frühen Gewerkschaftsbewegung (1890-1914). Die Strategien der Buchdruckerei-Hilfsarbeiterinnen um Paula Thiede, Bielefeld 2021
Fuhrmann, Uwe, Gewerkschafterinnen in der Erinnerungskultur der Gewerkschaften, in: Stefan Berger, Wolfgang Jäger u. Ulf Teichmann (Hrsg.), Gewerkschaften im Gedächtnis der Demokratie. Welche Rolle spielen sozial Kämpfe in der Erinnerungskultur, Bielefeld 2022, S. 161-185
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