Quelle: HBS Erinnerungskulturen
: Warum eine Kommission "Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie"?
Welche Erinnerungen an die Durchsetzung sozialer Rechte sind heute noch in der Gesellschaft präsent? Wie steht es um die Verankerung des langen und mühevollen Weges zum Sozialstaat im kollektiven Gedächtnis? Wer erinnert sich noch an den Beitrag der Gewerkschaften zur Entwicklung einer sozialen Demokratie?
Diese und andere Fragen standen am Anfang der Arbeit der Kommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“. Indem die Kommission auf diese Fragen Antworten sucht, möchte sie zugleich herausfinden, welchen Platz die Werte der sozialen Demokratie und die Errungenschaften der Arbeiterbewegung im kollektiven Erinnern der Gewerkschaften und der Gesellschaft haben.
Zu diesem Zweck initiiert und begleitet die Kommission Forschungen zur Erinnerungsgeschichte der sozialen Demokratie. Diese historische Reflexion hat zum Ziel, eine Erinnerungskultur zu befördern, die vermeintlich selbstverständliche soziale Errungenschaften als Ergebnisse historischer Prozesse, von Interessenkonflikten und Kämpfen, darstellt. In diesem Sinne wird auch Orientierungs- und Handlungswissen für die Erinnerungsarbeit der Akteur_innen der Mitbestimmung und der sozialen Demokratie gewonnen. Zum Abschluss ihrer Arbeit wird die Kommission Handlungsempfehlungen zur Stärkung von Erinnerungskulturen sozialer Demokratie präsentieren.
WAS SIND ERINNERUNGSKULTUREN?
Unter Erinnerungskultur wird der Umgang mit Geschichte im weitesten Sinne verstanden. Erinnern gilt dabei als sozialer Prozess und steht daher immer im Wechselspiel mit gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen, politischen Interessen und auch Vorstellungen von Zukunft. Träger der Erinnerungskultur sind vielfältige, oft kollektive, Akteur_innen – vom Staat, über Großorganisationen und zivilgesellschaftliche Initiativen bis zu Einzelpersonen. Da unterschiedliche Akteur_innen, auch verschiedene Milieus oder soziale Gruppen, voneinander abweichende (und zugleich aufeinander bezogene) Erinnerungskulturen ausprägen, verwendet die Kommission den Begriff stets im Plural.
Erinnerungskulturen entstehen durch die soziale Praxis des Erinnerns. Um ihnen wissenschaftlich auf die Spur zu kommen, muss dieses Erinnern systematisch untersucht werden, beispielsweise bei Jubiläen oder anderen ritualisierten Ereignissen. Praktiken des Gedenkens sind aber nur ein Teil des Untersuchungsfeldes. Erinnerungskultur entsteht auch in geschichtspolitischen Debatten, durch historische Argumentation in politischen Auseinandersetzungen oder in der politischen Bildung. Hinzu kommt die fast beiläufige Präsenz von Erinnerung in vielen alltäglichen Situationen.
Erinnerungsgeschichte, wie die Kommission sie versteht, untersucht vergangene Erinnerungskulturen und fragt dabei unter anderem: Wer erinnerte wann, wie und mit welcher Intention an welche (vermeintlichen) historischen Begebenheiten? Was lässt sich über die Rezeption von Erinnerungsangeboten von Organisationen und Institutionen sagen? Welche Vorstellungen einer erstrebenswerten Gesellschaft verbanden sich mit welchen Praktiken und Inhalten des Erinnerns? Und nicht zuletzt: Welche Prozesse und Ereignisse sind aus welchen Gründen nicht zum Gegenstand kollektiven Erinnerns geworden?
WAS IST SOZIALE DEMOKRATIE?
Soziale Demokratie ist zunächst eine Konzeption gesellschaftlicher Ordnung. In dieser wird politische Demokratie durch eine nicht minder wichtige Demokratisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ergänzt. Die Gewährleistung sozialer Rechte, wie eine angemessene Teilhabe am Wohlstand der Gesellschaft, wird dabei als Voraussetzung angesehen, um auch politische Rechte wahrnehmen zu können.
Darüber hinaus lässt sich soziale Demokratie verstehen als die politische Bewegung der kollektiven Akteure, die sich für die Durchsetzung sozialer Rechte einsetzen. Hier geraten je nach Region und Zeitraum viele verschiedene Akteure in den Blick. In der deutschen Geschichte sind dies beispielsweise die Organisationen der demokratischen Arbeiterbewegung, der bürgerlichen Sozialreform oder die Frauenbewegung. Ein Schwerpunkt der Arbeit der Kommission liegt auf der deutschen Gewerkschaftsbewegung von ihren Anfängen bis in die Gegenwart.
ARBEITSPROGRAMM
In der Kommission arbeiten Vertreter_innen des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) und seiner Mitgliedsgewerkschaften, der Hans-Böckler-Stiftung (HBS), der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) sowie Historiker_innen zusammen. Auf neun Sitzungen im Zeitraum von 2018 bis 2020 erarbeitet sie ausgewählte Aspekte einer Erinnerungsgeschichte zentraler Institutionen und Organisationen der sozialen Demokratie. Gegenstände der Arbeit sind die Gewerkschaften, die Sozialversicherung, das Tarifwesen, die Gleichstellung der Geschlechter und vieles mehr. Zu diesen erinnerungsgeschichtlich bisher kaum beforschten Themen erstellen einschlägige Expert_innen Beiträge, die in der Kommission diskutiert werden. Diese Beiträge werden anschließend auf dieser Website und zum Projektabschluss in einem Sammelband veröffentlicht. Darüber hinaus berät die Kommission, was die gewonnenen erinnerungsgeschichtlichen Erkenntnisse für gegenwärtige Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie bedeuten und wie die Träger der sozialen Demokratie Geschichte und Erinnerungspolitik als Ressourcen nutzen können.