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Der Geschäftsführende Vorstand des DGB der britischen Zone im Juli 1949: Albin Karl, Matthias Föcher, Hans Böckler, Liesel Kipp-Kaule, August Schmidt, Wilhelm Petersen, Wilhelm Pawlik, Konrad Skrentny, Wilhelm Gefeller, Hans Böckler, Liesel Kipp-Kaule, August Schmidt,Wilhelm Petersen, Wilhelm Pawlik, Konrad Skrentny, Wilhelm Gefeller, Hans Böhm und Hans vom Hoff

Der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit: Tarifpolitik

Die Regelung der Arbeitsbedingungen führt mitten hinein in den Konflikt zwischen Kapital und Arbeit. Dabei geht es um Lohnhöhe, Arbeitszeit und Arbeitsbedingungen. Der Verband der Deutschen Buchdrucker schließt 1873 den ersten Tarifvertrag in Deutschland ab. Doch es dauert noch lange bis Tarifverträge allseits anerkannt sind. Und immer wieder wird versucht, ihre Bindekraft zu schwächen.

Im Kaiserreich: Vom individuellen zum kollektiven Arbeitsvertrag

Die im 19. Jahrhundert im Zuge der Industrialisierung beschäftigten Arbeitskräfte werden mit individuellen Arbeitsverträgen angestellt, in denen Arbeitszeit und Lohnhöhe bestimmt werden. So können die Arbeitgeber die Arbeitsbedingungen nach den eigenen Vorstellungen diktieren. Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts wird die Idee entwickelt, dass es für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer besser wäre, gemeinsam ihre Interessen gegenüber den Arbeitgebern zu vertreten. Den Weg frei zur Gründung von Gewerkschaften macht die Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes vom Oktober 1869. Sie hebt alle Strafbestimmungen wegen „Verabredungen und Vereinigungen zum Behufe der Erlangung günstiger Lohn-­ und Arbeitsbedingungen, insbesondere mittels Einstellung der Arbeit oder Entlassung der Arbeiter“ auf. Diese Regelung wird in die Verfassung des 1871 gegründeten Kaiserreichs übernommen.

Die liberalen Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine erkennen in den 1860er Jahren im Tarifvertrag ein Instrument zur friedlichen Konfliktregelung. Ähnlich werden sich später, in den 1890er Jahren, auch die Christlichen Gewerkschaften in ihren Grundsatzerklärungen festlegen. Doch manch Freiem Gewerkschafter gelten tarifpolitische Vereinbarungen mit den Arbeitgebern als Ausdruck unentschuldbarer „Harmonieduselei”. Erst der 3. Kongress der Freien Gewerkschaften, der 1899 in Frankfurt/Main zusammentritt, spricht sich eindeutig für den Tarifvertrag „als Beweis der Anerkennung der Gleichberechtigung der Arbeiter seitens der Unternehmer bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen” aus.

Trotz der Abwehr insbesondere der einflussreichen Arbeitgeber der Schwerindustrie und trotz der Versuche, Gewerkschaften aus den Betrieben fernzuhalten und wirtschaftsfriedliche Konkurrenzverbände zu fördern, werden Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Tarifverträge abgeschlossen. Nach und nach erklären sich Arbeitgeber, vielfach durch Arbeitskämpfe gedrängt, zum Abschluss von Tarifverträgen bereit. Die Erfolge der Gewerkschaften zeigen sich in der Verkürzung der Arbeitszeit und im Anstieg der Löhne.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs bedeutet einen tiefen Einschnitt in der Entwicklung der Tarifpolitik. Mit ihrem „Burgfriedens“-Beschluss, also dem Verzicht auf jegliche Lohnkämpfe, unterstellen sich die Freien Gewerkschaften den Anforderungen der Kriegsführung. Die anderen Richtungsgewerkschaften reihen sich in diese Linie ein. Im Gegenzug werden sie mit dem Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom Dezember 1916 als wichtige Partnerinnen bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen anerkannt. Doch erst unter dem Druck der Revolution erkennen auch die Arbeitgeberverbände am 15. November 1918 mit dem „Novemberabkommen“ die Gewerkschaften als Verhandlungspartnerinnen an. Auf dieser Grundlage wird mit der Tarifvertrags-Verordnung des Rats der Volksbeauftragten vom 23. Dezember 1918 die überbetriebliche Regelung von arbeitsrechtlichen Normen durch Tarifverträge festgeschrieben. Sie behält bis in die Endphase der Weimarer Republik gesetzliche Gültigkeit.

In der Weimarer Republik: Tarifautonomie und Zwangsschlichtung

Mit der Weimarer Reichsverfassung wird festgelegt, dass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer berechtigt sind, zur Vertretung ihrer Interessen Gewerkschaften zu gründen und entsprechende Verträge mit den Arbeitgebern abzuschließen. Die Anfang der 1920er Jahre vereinbarten Lohnerhöhungen werden durch die 1922/23 galoppierende Inflation aufgezehrt. Und der gesetzlich verankerte Acht-Stundentag wird auf Drängen der Arbeitgeberseite ausgehöhlt. Als sich die Konflikte zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften um Arbeitszeit und Lohnhöhe verschärfen, wird 1923 eine staatliche Zwangsschlichtung eingeführt.

Nicht nur durch die Zwangsschlichtung, sondern auch durch Notverordnungen während der Weltwirtschaftskrise zu Beginn der 1930er Jahre wird in die Tarifautonomie eingegriffen. Löhne und Gehälter werden gesenkt. Die von Massenarbeitslosigkeit geschwächten Gewerkschaften können das nicht verhindern.

Kurz nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten werden die Gewerkschaften im Frühjahr 1933 zerschlagen, die Betriebsräte aufgelöst und die Tarifautonomie abgeschafft. Die Arbeitsbedingungen werden fortan von den Treuhändern der Arbeit festgelegt.

Tarifpolitik in der Bunderepublik Deutschland: Erfolgsgeschichte mit Schönheitsfehlern

Nach dem Ende der NS-Diktatur wird in den westlichen Besatzungszonen die Arbeitsmarktordnung der Weimarer Zeit wieder hergestellt. Mit dem Tarifvertrikagsgesetz vom 9. April 1949 wird die Tarifautonomie erneut etabliert.

Begünstigt vom Wirtschaftsaufschwung der 1950er Jahre können die Gewerkschaften deutliche Reallohnverbesserungen und in den Jahren ab 1956 Verkürzungen der Arbeitszeit, d.h. konkret die 5-Tage-Woche, sowie 1957 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter und Arbeiterinnen erkämpfen.

In der Rezession schließen die Gewerkschaften Ende der 1960er Jahre, eingebunden in die 1967 gebildete Konzertierte Aktion, Lohnverträge ab, die weit hinter den Erwartungen der Mitglieder zurückbleiben. Im September 1969 kommt es deswegen zu „Wilden Streiks“.

In den 1970er Jahre werden neue Themen in die Tarifpolitik einbezogen: Mit dem Lohnrahmentarif II wird für die Metallindustrie eine neue Pausenregelung eingeführt. 1978 schließen die IG Metall und die IG Druck und Papier die ersten Rationalisierungsschutzabkommen ab. Und 1979 wird für die Stahlindustrie ein sechswöchiger Jahresurlaub eingeführt. Nicht gelöst wird das Problem der Lohndiskriminierung von Frauen.

Die Tarifpolitik der 1980er Jahre wird vom Kampf um die Einführung der 35-Stunden-Woche geprägt. Einmal mehr zeigt sich, dass gerade um die Dauer der Arbeitszeit verbissen, d.h. mit Streik und Aussperrung, gekämpft wird. Nach und nach gelingt ab 1984 die stufenweise Verkürzung der Arbeitszeit.

Tarifpolitik in der Planwirtschaft der DDR

Zunächst sind in der DDR Tarif- und Streikrecht durch die Verfassung vom 7. Oktober 1949 garantiert. Doch im Gesetz der Arbeit von 1950 und in der neuen Verfassung von 1968 wird das Streikrecht nicht mehr erwähnt.

Den Rahmen für die Regelung von Arbeitszeit und Löhnen bestimmt das Arbeitsgesetzbuch vom Juni 1977. Damit wird die Festlegung von Lohnhöhe und Arbeitszeit in den Prozess der wirtschaftlichen Planung eingebunden. So ist es nicht verwunderlich, dass sich Löhne und Arbeitszeit nur langsam im Interesse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer entwickeln. Auch liegen die Frauenlöhne niedriger als die der Männer.

Nach der Deutschen Einheit: Tarifsystem unter Druck

Die Jahre nach der Deutschen Einheit sind zunächst von den Bemühungen geprägt, das Tarifgefüge der „alten“ auf die „neuen“ Bundesländer zu übertragen. Die unterschiedlich hohe Produktivität der Wirtschaft führt dazu, dass die Herstellung der Tarifeinheit, d.h. die Angleichung der Einkommen in „Ost“ und „West“, nur langsam vorangeht. Auch das trägt dazu bei, dass sich in den Neuen Bundesländern ein Gefühl von Enttäuschung ausbreitet und dass der Flächentarifvertrag in eine Krise gerät. Die kontrollierte Öffnung des Flächentarifvertrags steht auf der Tagesordnung. Damit soll die Ausbreitung betrieblicher Bündnisse für Arbeit gestoppt werden, die vielfach die tariflichen Regelungen unterlaufen. Wegweisend ist das Pforzheimer Abkommen vom Februar 2004, das für die Metallindustrie die Öffnung von Tarifverträgen vereinbart. Es erlaubt Unternehmen, von Tarifverträgen befristet abzuweichen, wenn sie dadurch Arbeitsplätze sichern oder neue schaffen. Der Flächentarifvertrag bleibt jedoch der Standard, die Abweichung ist die Ausnahme.

In den 2000er Jahren kümmert sich die Tarifpolitik, zusätzlich zu den „traditionellen“ Fragen von Lohnhöhe und Arbeitszeit, insbesondere um die Entwicklung völlig neuer Tarifstrukturen. Ab Beginn der 2020er Jahre rücken die deutliche Erhöhung der Einkommen und weitere Schritte zur Verkürzung der Arbeitszeit, zunächst vor allem für Schichtarbeiterinnen und Schichtarbeiter, in den Vordergrund. Zwar wird in den Jahren seit der Deutschen Einheit die geschlechtsspezifische Lohndifferenz weiter abgebaut, verschwunden ist sie auch Anfang der 2020er Jahre nicht. Und schwer tariflich zu regeln sind für die Gewerkschaften die Arbeitsbedingungen von prekär Beschäftigten.

Da das Tarifsystem insgesamt zunehmend unter Druck gerät, wird die Tarifpolitik von staatlichen Maßnahmen begleitet: Mit mehreren Gesetzen wird versucht, die Tarifautonomie zu stärken und für einheitliche Arbeitsbedingungen auch in den Bereichen zu sorgen, in denen unterschiedliche Gewerkschaften eigene tarifpolitische Ziele verfolgen und Verträge durchsetzen wollen.

DGB-Positionspapier zur Tariftreue Mai 2023

Bilanz der gewerkschaftlichen Tarifpolitik: Erfolge – Schwächen – Niederlagen

Die tägliche und wöchentliche Arbeitszeit ist im Laufe der Jahrzehnte von 10 bzw. 60 Stunden am Ende des 19. Jahrhunderts über 8 bzw. 48 Stunden im Zuge der Revolution 1918/19 und die Einführung der 5-Tage-Woche mit 40 Stunden in den 1950er Jahren auf etwa 35 Stunden pro Woche bei oftmals flexibler Verteilung auf die Werktage gesunken.

Noch eindrucksvoller wird die Arbeitszeitentwicklung, wenn die Jahresarbeitszeit betrachtet wird: Um die Jahrhundertwende sind für Arbeiterinnen und Arbeiter zwei bis drei Urlaubstage, in den 1920er Jahren dann um die 10 Urlaubstage pro Jahr vorgesehen. Heute sind es, je nach Tarifvertrag, um die sechs Wochen.

Und auch die Lebensarbeitszeit ist zu berücksichtigen. Scheint auch die Heraufsetzung des Mindestalters für den abschlagsfreien Rentenbeginn von 65 auf 67 Jahre eine Verlängerung der Lebensarbeitszeit anzudeuten, so ist doch zu beachten, dass sich der Anfang der Berufstätigkeit durch die vorgeschalteten Schul- und Ausbildungszeiten vielfach nach hinten verschiebt und dass sich die Rentenbezugszeit durch die gestiegene Lebenserwartung deutlich verlängert. Mit anderen Worten: Der Anteil der Arbeitszeit am gesamten Leben sinkt.

Die Einkommen der Vollarbeitskräfte sind – parallel zu Produktivitätsfortschritt und Wirtschaftswachstum – kontinuierlich gestiegen, wobei es immer wieder Phasen von Reallohnverlusten gibt. Mehr als ein Schönheitsfehler ist es freilich, dass die Lohndifferenz zwischen Männer- und Frauenlöhnen nicht völlig abgebaut wird. Das Thema „Gender Pay Gap“ bleibt also auf der Tagesordnung. Besondere Herausforderung für die gewerkschaftliche Tarifpolitik ist zudem die wachsende Zahl von prekär Beschäftigten und von Schein- bzw. Soloselbstständigen sowie mobil Arbeitenden, die tariflich kaum erfasst werden.

Insgesamt erfüllen Tarifverträge damit einerseits eine Schutzfunktion für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Die ungleiche Verhandlungsposition zwischen den einzelnen Beschäftigten und den Arbeitgebern wird zumindest teilweise ausgeglichen; auch können die einzelnen Beschäftigten schwerer gegeneinander ausgespielt werden. Andererseits profitieren Arbeitgeber insgesamt davon, dass sich einzelne Unternehmen bei den Arbeitskosten keine Wettbewerbsvorteile erschleichen können; außerdem besteht während der Laufzeit eines Tarifvertrages eine Friedenspflicht, so dass die Unternehmen Planungssicherheit gewinnen.

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Zur aktuellen Tarifpolitik Informationen auf der Internetseite der Hans-Böckler-Stiftung

Gender Pay Gap / Entgeltungleichheit auf der Internetseite der Hans-Böckler-Stiftung