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Bergarbeiterstreik 1905: Streikende beim Lesen des Schießerlasses

Hart erkämpft: Tarifverträge im Kaiserreich

Nach dem ersten Tarifvertrag 1873 im Buchdruckergewerbe folgt ein jahrelanger Kampf um die Durchsetzung des Tarifvertragsgedankens in Deutschland. Nach und nach werden für immer mehr Branchen Tarifverträge abgeschlossen, die auf kleine Regionen und eher handwerkliche Berufszweige begrenzt sind.

Doch die Mehrheit der Arbeitgeber vor allem in der Großindustrie lehnt es nach wie vor ab, die Gewerkschafter überhaupt anzuhören oder gar mit ihnen zu verhandeln. Getreu dem „Herr-im-Haus”-Standpunkt gelten den meisten Unternehmern gewerkschaftliche Mitspracheforderungen bis weit nach der Jahrhundertwende als unberechtigte Einmischung betriebsfremder Elemente in ihre privaten Angelegenheiten oder als Störenfriede des eigentlich doch harmonischen Verhältnisses zwischen Arbeitgeber und einzelnem Arbeitnehmer. Mit der Förderung von wirtschaftsfriedlichen Verbänden, mit der Kündigung von „Rädelsführern“ und mit weitreichenden Aussperrungen versuchen sie die jungen Gewerkschaften klein zu halten.

Zwar schließen sich die Arbeitgeber in den 1890er Jahren in Verbänden zusammen. Doch es dauert noch Jahre bis größere Unternehmen bzw. deren Verbände zum Abschluss von Tarifverträgen bereit sind. Immer wieder sind Streiks nötig, um die Arbeitgeber an den Verhandlungstisch zu bringen. Besonders hart umkämpft ist die Frage der Arbeitszeit. Gerade bei deren Regelung kommt es zu Arbeitskämpfen mit vielen Streikenden und langer Dauer; und hier wird seitens der Arbeitgeber oftmals die Aussperrung eingesetzt, um die Durchhaltekraft der jungen Gewerkschaften zu brechen.

Trotz der Abwehr insbesondere der einflussreichen Arbeitgeber der Schwerindustrie, die die Politik der wirtschaftlichen Interessenverbände prägen, werden Ende des 19. Jahrhunderts immer mehr Tarifverträge abgeschlossen. 1899 schließen die Bauarbeiter, 1906 die Metallarbeiter ihre ersten Tarifverträge ab. Dann steigt die Zahl der Tarifverträge rasch an – von 3.000 Im Jahre 1906 auf etwa 13.500 für 218.000 Betriebe mit etwa 2 Millionen Arbeitskräften im Jahre 1913. Damit arbeiten 1913 16,5 % aller in der Industrie Beschäftigten und 36,4 % der Mitglieder der Freien Gewerkschaften zu tarifvertraglich festgelegten Bedingungen. Und 79,5 % dieser Tarifverträge sind ohne Streik zu Stande gekommen. Nicht zu übersehen ist, dass die Gewerkschaften kaum Einfluss auf die Regelung der Arbeitsbedingungen in den Großbetrieben vor allem im Bereich der Schwerindustrie haben.

Vor Beginn des Ersten Weltkriegs bilden sich die Grundlagen des bis heute bestehenden Tarifsystems heraus: Die Tarifverträge haben normalerweise eine Laufzeit von ein bis drei Jahren bei einer Kündigungsfrist von ein bis drei Monaten. Geregelt werden alle Fragen der Arbeitsbedingungen, auch wenn zum Teil gesetzliche Rahmenvorgaben bestehen. So bildet sich zu Anfang des 20. Jahrhunderts das Zusammenspiel von Streik und Tarifverhandlung in der gewerkschaftlichen Strategie heraus. Und auch die Gegenmaßnahmen der Arbeitgeber, vor allem die Aussperrung, etablieren sich.

Die Erfolge der Gewerkschaften sind nicht zu übersehen: Die durchschnittlichen Jahresverdienste von Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in Industrie, Handel und Verkehr steigen von 1890 bis 1913 spürbar an. Allerdings gibt es deutliche Unterschiede von Branche zu Branche: So stehen z.B. Einkommenszuwächse in der Druckindustrie weiterhin elenden Verhältnissen in der Textilindustrie gegenüber. Im selben Zeitraum geht die Arbeitszeit in der Industrie weiter zurück: Sie beträgt 1890 noch durchschnittlich 11 Stunden pro Tag und 66 Stunden pro Woche. In den Jahrzehnten bis 1913 wird nach und nach eine Verkürzung auf 10 Stunden pro Tag und – durch die ersten Anfänge der Arbeitsruhe am Samstagnachmittag – auf 54 bis 60 Stunden pro Woche erstritten. Diese Entwicklung wäre gewiss nicht eingetreten ohne die insgesamt gute wirtschaftliche Konjunktur, ohne die Steigerung der Produktivität und ohne den kämpferischen Einsatz der Gewerkschaften. Die Ergebnisse kommen freilich vor allem den gut ausgebildeten Facharbeitern zugute, die in den aufstrebenden Industriebereichen einen sicheren Arbeitsplatz haben.

Der Beginn des Ersten Weltkriegs bedeutet einen tiefen Einschnitt in der Entwicklung der Tarifpolitik. Mit ihrem „Burgfriedens“-Beschluss, also dem Verzicht auf jegliche Lohnkämpfe, unterstellen sich die Freien Gewerkschaften den Anforderungen des Krieges. Die anderen Richtungsgewerkschaften reihen sich in diese Linie ein. Mit dem Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst vom Dezember 1916 werden die Gewerkschaften als wichtige Partnerinnen bei der Festlegung der Arbeitsbedingungen anerkannt. Den eigentlichen Durchbruch bringt dann das Novemberabkommen zwischen Gewerkschaften und Unternehmern vom 15. November 1918: Unter dem Druck der Revolution werden die Gewerkschaften als Verhandlungspartnerinnen akzeptiert, Tarifverträge werden anerkannt und zudem wird der 8-Stundentag bei sechs Arbeitstagen pro Woche als Regelarbeitszeit festgelegt. Mit der Tarifvertrags-Verordnung des Rats der Volksbeauftragten vom 23. Dezember 1918 wird die überbetriebliche Regelung von arbeitsrechtlichen Normen durch Tarifverträge festgeschrieben. Sie behält bis in die Endphase der Weimarer Republik gesetzliche Gültigkeit.

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Zur aktuellen Tarifpolitik Informationen auf der Internetseite der Hans-Böckler-Stiftung

Gender Pay Gap / Entgeltungleichheit auf der Internetseite der Hans-Böckler-Stiftung