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Streik der Metallarbeiter in Württemberg-Nordbaden, 29. April 1963

Tarifpolitik bedeutet mehr als Lohnerhöhungen: Tarifpolitik in der Bundesrepublik Deutschland

Nach dem Ende der NS-Diktatur wird in den westlichen Besatzungszonen die Arbeitsmarktordnung der Weimarer Zeit wieder hergestellt. Mit dem Tarifvertragsgesetz vom 9. April 1949 wird die Tarifautonomie erneut etabliert.

Die Höchstarbeitszeit wird, wie schon in der Weimarer Republik, per Gesetz festgelegt. Das gilt auch für die Mindesturlaubsdauer, die 1963 gesetzlich bestimmt wird. Und seit 2015 gibt es einen gesetzlichen Mindestlohn, der kontinuierlich durch die Beschlüsse der (unabhängigen) Mindestlohnkommission an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst wird.

Begünstigt vom Wirtschaftsaufschwung der 1950er Jahre können die Gewerkschaften deutliche Reallohnverbesserungen und in den Jahren ab 1956 Verkürzungen der Arbeitszeit, d.h. konkret die 5-Tage-Woche, sowie 1957 die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall auch für Arbeiter und Arbeiterinnen erkämpfen. Ein weiterer Meilenstein der Tarifpolitik ist die Vereinbarung über vermögenswirksame Leistungen in der Bauindustrie 1965.

In der Rezession schließen die Gewerkschaften Ende der 1960er Jahre, eingebunden in die 1967 gebildete Konzertierte Aktion, Lohnverträge ab, die weit hinter den Erwartungen der Mitglieder zurückbleiben. Im September 1969 kommt es deswegen zu „Wilden Streiks“, nach denen die Gewerkschaften entweder Nachverhandlungen oder in der nächsten Tarifrunde deutliche Lohnerhöhungen durchsetzen. Symbolische Bedeutung gewinnt der Tarifabschluss für den Öffentlichen Dienst, in dem im Jahr 1974 nach Streik eine Gehaltserhöhung von 11 % vereinbart wird.

In den 1970er Jahre werden neue Themen in die Tarifpolitik einbezogen: Mit dem Lohnrahmentarif II wird für die Metallindustrie eine neue Pausenregelung eingeführt. 1978 schließen die IG Metall und die IG Druck und Papier die ersten Rationalisierungsschutzabkommen ab. Und 1979 wird für die Stahlindustrie ein sechswöchiger Jahresurlaub eingeführt.

Nicht gelöst wird das Problem der Lohndiskriminierung von Frauen. Bis in 1980er Jahre tun sich die von Männern dominierten Gewerkschaften in der Bundesrepublik Deutschland schwer, die Arbeitsleistung von Frauen gerecht einzustufen: Mal müssen ihre geringe Qualifikation, mal die geringen Anforderungen des Arbeitsplatzes als Grund für die niedrige Eingruppierung herhalten. Und selbst wenn, wie 1974 von der IG Druck und Papier tarifvertraglich vereinbart, die Eingruppierung von Frauen in die untersten Lohngruppen ausgeschlossen wird, wird durch übertarifliche Zulagen für Männer in der Praxis die unterschiedlich hohe Entlohnung fortgeführt. Die Gerichtsurteile aus den Jahren 1981/82 in den mit Unterstützung der IG Druck und Papier von Frauen der Firma Foto-Gruppe Heinze und der Firma Schickedanz angestrengten Prozessen bedeuten Wegmarken auf dem Weg zu gleichen Männer- und Frauenlöhnen.

Die Tarifpolitik der 1980er Jahre wird vom Kampf um die Einführung der 35-Stunden-Woche geprägt. Einmal mehr zeigt sich, dass gerade um die Dauer der Arbeitszeit verbissen, d.h. mit Streik und Aussperrung, gekämpft wird. Nach und nach gelingt ab 1984 die stufenweise Verkürzung der Arbeitszeit. Ebenfalls wegweisend ist der Tarifvertrag, mit dem die IG Chemie 1988 erstmals einen einheitlichen Entgelttarif für alle Beschäftigten, also für Arbeiterinnen und Arbeiter wie für Angestellte, abschließt.

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Zur aktuellen Tarifpolitik Informationen auf der Internetseite der Hans-Böckler-Stiftung

Gender Pay Gap / Entgeltungleichheit auf der Internetseite der Hans-Böckler-Stiftung