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Nach der Deutschen Einheit: Tarifsystem unter Druck
Die Jahre nach der Deutschen Einheit sind von den Bemühungen geprägt, das Tarifgefüge der „alten“ auf die „neuen“ Bundesländer zu übertragen.
Die unterschiedlich hohe Produktivität der Wirtschaft führt dazu, dass die Herstellung der Tarifeinheit, d.h. die Angleichung der Einkommen in „Ost“ und „West“, nur langsam vorangeht. Das führt einerseits zu Enttäuschung, ja Verbitterung bei Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern. Und andererseits sehen sich die Betriebe einem erhöhten Kostendruck ausgesetzt, der ihre Konkurrenzfähigkeit belastet. Das trägt dazu bei, dass der Flächentarifvertrag in eine Krise gerät. Gerade in den Neuen Bundesländern entziehen sich zahlreiche Betriebe dem Tarifvertragssystem. Die kontrollierte Öffnung des Flächentarifvertrags steht auf der Tagesordnung. Damit soll die Ausbreitung betrieblicher Bündnisse für Arbeit gestoppt werden, die vielfach die tariflichen Regelungen unterlaufen. Wegweisend ist das Pforzheimer Abkommen vom Februar 2004, das für die Metallindustrie die Öffnung von Tarifverträgen vereinbart. Es erlaubt Unternehmen, von Tarifverträgen befristet abzuweichen, wenn sie dadurch Arbeitsplätze sichern oder neue schaffen. Der Flächentarifvertrag bleibt jedoch der Standard, die Abweichung ist die Ausnahme. Doch die Kritik der Arbeitgeber am angeblich zu starren Tarifsystem wird dadurch nicht leiser.
In den 2000er Jahren kümmert sich die Tarifpolitik, zusätzlich zu den „traditionellen“ Fragen von Lohnhöhe und Arbeitszeit, insbesondere um die Entwicklung völlig neuer Tarifstrukturen (z.B. TVöD 2005), um die Einführung von Mindestlöhnen nach dem Entsendegesetz (2007), um Tarifzuschläge bei Leiharbeit (2012) und um die Einführung der „Wahlarbeitszeit“ (bei der Deutschen Bahn 2016 und in der Metallindustrie 2018).
Ab Beginn der 2020er Jahre rücken deutliche Erhöhungen der Einkommen und weitere Schritte zur Verkürzung der Arbeitszeit ins Zentrum der gewerkschaftlichen Tarifpolitik. Angesichts der beschleunigten Geldentwertung 2022/23 geht es den Gewerkschaften in diesen Jahren vorrangig um deutliche Lohnerhöhungen. Steigerungen von über 10 % (bei mehrjähriger Laufzeit) sind keine Seltenheit. Außerdem beginnt der Kampf um einen Einstieg in eine weitere Verkürzung der Wochenarbeitszeit. Federführend sind die IG Metall und die GDL, die jeweils für Schichtarbeiter und Schichtarbeiterinnen einen Einstieg in die Verkürzung der Arbeitszeit auf 35 bzw. 32 Stunden pro Woche fordern.
Zwar wird in den Jahren seit der Deutschen Einheit die geschlechtsspezifische Lohndifferenz weiter abgebaut, verschwunden ist sie auch Anfang der 2020er Jahre nicht. Sieht man von den Unterschieden in Qualifikation, ausgeübtem Beruf und Arbeitszeit ab, so erreicht das Einkommen von Frauen – je nach Erhebung – zwischen 75 und 80 % des Einkommens der Männer. Selbst wenn man diese Faktoren berücksichtigt und „nur“ die Tätigkeit selbst betrachtet, liegen die Fraueneinkommen für dieselbe Arbeit – wiederum je nach Erhebung – um zwischen 2 und 10 % unter denen der Männer. Die geschlechtsspezifische Lohndiskriminierung ist nach wie vor ein drängendes Problem, das gelöst werden muss. Das Thema „Gender Pay Gap“ bleibt also auf der Tagesordnung.
Für die Bereiche, in denen die Gewerkschaften nicht in der Lage sind, ausreichend hohe Tarifabschlüsse zu erzielen, wird in Umsetzung des Tarifautonomiestärkungsgesetzes (2014) ab 2015 der gesetzliche Mindestlohn eingeführt: Er wird zunächst auf 8,50 € pro Stunde festgelegt und steigt bis 2023 auf über 12 €. Dass einzelne Gruppen von Beschäftigten, z.B. Auszubildende und Jugendliche, von den Garantien des Mindestlohngesetzes ausgenommen sind, führt immer wieder zu Diskussionen; zuletzt im Juli 2023, als Kevin Kühnert, der Generalsekretär der SPD, für Jugendliche, die z.B. im Gastgewerbe als Aushilfskräfte arbeiten, den gleichen Lohn fordert, wie ihn die erwachsenen Kolleginnen und Kollegen erhalten.
2015 wird mit dem Tarifeinheitsgesetz der Versuch unternommen, im Sinne des innerbetrieblichen Friedens für einheitliche Arbeitsbedingungen auch in den Bereichen zu sorgen, in denen unterschiedliche Gewerkschaften – z.B. EVG und GDL – eigene tarifpolitische Ziele verfolgen und Verträge durchsetzen wollen. Vor diesem Hintergrund wird 2015/16 eine etwaige Einschränkung des Streikrechts diskutiert. Es geht um die Forderung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, nach Abschluss eines Tarifvertrages mit der Mehrheitsgewerkschaft für etwaig noch verhandelnde Spartengewerkschaften eine Friedenspflicht einzuführen. Dem wird widersprochen: Eine genauere Betrachtung zeige, dass auf die Aktionen der kleinen Berufsgewerkschaften wie Cockpit und GDL in den Jahren von 2006 bis 2014 nur 6,7 % der streikbedingten Ausfalltage entfallen. Schließlich setzt sich die Auffassung durch, dass eine Einschränkung des Streikrechts eine nicht gerechtfertigte Einschränkung der Koalitionsfreiheit wäre, die eben auch den Berufsverbänden zusteht. Die Debatte verläuft zunächst im Sande, lebt aber stets dann wieder auf, wenn Sparten- bzw. Berufsgewerkschaften durch Streikaktionen Teile des öffentlichen Lebens lahmlegen.
Seit Jahren geht die Tarifbindung in Deutschland zurück: Von etwa 80 % Anfang der 1990er Jahre über 68 % im Jahre 2000 sinkt der Anteil der Beschäftigten mit tariflich geschützten Ansprüchen auf 49 % im Jahr 2023; in den neuen Bundesländern liegt der Anteil der zu Tarifbedingungen Beschäftigten noch deutlich niedriger. Die Verhältnisse sind von Branche sehr unterschiedlich: In den „traditionellen“ Bereichen der Chemie-, Metall-, Elektro- und Stahlindustrie sowie im Öffentlichen Dienst ist die Tarifbindung recht hoch, im Einzelhandel und in der IT-Industrie ist sie niedriger. Mit dem Tariftreuegesetz, das 2023 auf den Weg gebracht wird, sollen staatliche Stellen verpflichtet werden, Aufträge nur an Unternehmen mit Tarifbindung zu vergeben.
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Zur aktuellen Tarifpolitik Informationen auf der Internetseite der Hans-Böckler-Stiftung
Gender Pay Gap / Entgeltungleichheit auf der Internetseite der Hans-Böckler-Stiftung