Quelle: AdsD
Kaiser Wilhelm II.: Mit Reformen gegen die "rote Gefahr"
Unter Wilhelm II. werden nach dem Abgang des Kanzlers Otto von Bismarck weitere soziale Reformen auf den Weg gebracht. Sie sollen die „rote Gefahr“ bannen und den Zulauf zu Gewerkschaften und Sozialdemokratie stoppen. Doch die Rechnung des Kaisers geht nicht auf.
Zwei Tendenzen kennzeichnen die Ära von Wilhelm II.: Außenpolitisch setzt das Kaiserreich auf Stärke und territoriale Zugewinne in Europa und Afrika. Schon in den 1890er Jahren wird das Reich aufgerüstet, der von Großadmiral Alfred von Tirpitz propagierte Flottenbau und die Produktion schwerer Waffen vorangetrieben. Dieses Großmachtstreben erlangt mit dem „Panthersprung“ seinen ersten Höhepunkt. Im Juli 1911 schickt das Kaiserreich das Kanonenboot „Panther“ nach Agadir, um den Anspruch auf deutschen Kolonialbesitz in Afrika zu untermauern.
Innenpolitisch werden zahlreiche sozial- und gesellschaftspolitische Reformen auf den Weg gebracht. Das Sozialistengesetz wird aufgehoben, das Vereinsgesetz gelockert und der Arbeitsschutz für Frauen und Kinder verbessert. Mit der Novelle zur Gewerbeordnung vom Juni 1891 (Lex Berlepsch) wird die Sonntagsruhe eingeführt, die Höchstarbeitszeit für Jugendliche und Frauen auf 10 bis 11 Stunden pro Tag begrenzt, die Nachtarbeit verboten, der Wöchnerinnenschutz verbessert und die Arbeit von Kindern unter 13 Jahren grundsätzlich untersagt. Weitere Verbesserungen des Arbeitsschutzes werden in den Novellen zur Gewerbeordnung im Jahr 1900 und 1908 auf den Weg gebracht.
Gewerbeordnungsnovelle vom 1. Juni 1891 (pdf)
Gewerbeordnungsnovelle vom 9. Dezember 1908 (pdf)
Ebenfalls 1891 wird das Gesetz über die Errichtung von Gewerbegerichten verabschiedet. Es sieht vor, dass Streitfälle aus dem Arbeitsleben unter Beteiligung von Laienrichtern und Arbeitervertretern verhandelt werden sollen. Aus diesen Gewerbegerichten gehen später die heutigen Arbeitsgerichte hervor.
1900 wird das Bayerische Berggesetz novelliert. Es erlaubt in Zechen mit mehr als 20 Beschäftigten die Bildung von Arbeiterausschüssen. Diese Regelung wird 1905 – nach einem großen Arbeitskampf – von Preußen übernommen, allerdings nur für Zechen mit mehr als 100 Beschäftigten.
1908 wird das Vereinsgesetz reformiert. Danach können Frauen an politischen Versammlungen teilnehmen, Jugendliche unter 18 Jahren sind aber weiterhin vom politischen Leben ausgeschlossen.
1911 schließlich werden die unterschiedlichen Versicherungen zusammengelegt. Allerdings: Für Angestellte wird eine gesonderte Versicherungsordnung geschaffen, eine Teilung, die bis heute nicht ganz überwunden ist.
Reichsversicherungsordnung vom 31. Mai 1911 (pdf)
Versicherungsordnung für Angestellte vom 28. Dezember 1911 (pdf)
Behinderung der Arbeiterbewegung geht weiter
Doch wer glaubt, die sozialen und gesellschaftspolitischen Reformen seien Ausdruck eines entspannteren Verhältnisses zwischen bürgerlich-konservativen Kräften und Organisationen der Arbeiterbewegung, irrt. Schon Mitte der 1890er Jahre werden die Bemühungen verstärkt, alle bürgerlich-konservativen Kräfte in einer „Sammlungspolitik” gegen die Sozialdemokratie zusammenzufassen. Immer wieder warnt Wilhelm II. vor den „Parteien des Umsturzes”, gegen die er Religion, Sitte und Ordnung bewahrt und gestärkt wissen will. Immer wieder versucht er, durch Verschärfung der Gesetze, die sozialdemokratische Bewegung zu schwächen. So legt er dem Reichstag 1894 – nach der Ermordung des Präsidenten der Französischen Republik durch einen italienischen Anarchisten – die „Umsturzvorlage“ vor. Sie sieht eine Verschärfung des Straf- und Presserechts vor und läuft darauf hinaus, dass nicht nur eine Tat, sondern auch die Gesinnung eines Menschen als Straftat gewertet werden kann. Diese Vorlage findet im Reichstag allerdings nicht die erforderliche Mehrheit. Gleiches gilt für die „Zuchthausvorlage”, die vorsieht, dass Streikende, die Arbeitswillige daran hindern, die Arbeit aufzunehmen, mit Zuchthaus bestraft werden.
Eine gespaltene Gesellschaft
Die Reden Kaiser Wilhelms II., die Gesetzesvorlagen sowie die nationalistische Propaganda verunsichern und bedrohen weite Kreise der Arbeiterschaft. Viele erleben den Wilhelminischen Staat als Stütze der Kapitalisten. Dieser Eindruck wird durch das Eingreifen von Polizei und Militär bei Arbeitskämpfen verstärkt. Doch Ausgrenzung und Ungerechtigkeit einerseits und der Stolz auf die eigene Kraft und Leistung andererseits tragen dazu bei, dass das Klassenbewusstsein gestärkt wird und sich gegen Ende des 19.Jahrhunderts eine wachsende Zahl von Arbeitern und Arbeiterinnen in einer Partei und/oder Gewerkschaft engagiert.
Doch nicht nur die sozialdemokratische Arbeiterbewegung entwickelt sich zur Massenbewegung. Auch andere Organisationen verzeichnen großen Zulauf: Im April 1891 wird der „Allgemeine Deutsche Verband“ gegründet, der sich 1894 in „Alldeutscher Verband“ umbenennt. Die Ziele des Verbandes sind: Pflege vaterländischen Bewusstseins, antisemitische Agitation und deutsch-nationale Interessenpolitik im In- und Ausland, vor allem zu Gunsten Deutscher im Ausland und deutscher Kolonien. Der Ruf nach internationaler Solidarität, wie sie von der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung gefordert wird, gilt als Verrat an Deutschlands Großmacht-Interessen. Der „Deutsche Flottenverein”, gegründet im April 1898, setzt sich dafür ein, die Flotte zügig aufzurüsten, um Deutschland in der Welt mehr Geltung zu verschaffen. Der Verein zählt im Jahr 1913 1,1 Millionen Mitglieder.
Video
Am 17. August 1913 wird August Bebel zu Grabe getragen, einer der Begründer deutschen Sozialdemokratie. Auszüge aus einer Zeitzeugen-Aufnahme (Stummfilm).
© AdsD