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Neue Soziale Bewegungen Erinnerungskulturen

Kommissionssitzung am 16./17. Juli 2020: Konflikte erinnern? Erinnerungspolitik zwischen Gewerkschaften und Neuen sozialen Bewegungen

In der achten Sitzung der Kommission „Erinnerungskulturen der sozialen Demokratie“ ging es am 16. Juli 2020 um das Vergessen der Lehrlingsbewegung in den Gewerkschaften, vermeintlich gemeinsame Traditionen Alter und Neuer sozialer Bewegungen und um den Umgang der DGB-Gewerkschaften mit der NS-Vergangenheit.

Nachdem die Corona-Pandemie die Kommission zur Verschiebung ihres für April geplanten Termins zum Thema „Europäische Idee und Internationalismus“ gezwungen hatte, konnte diese Sitzung nun wieder stattfinden. Zwar wurde nur via Videokonferenz getagt und diskutiert, aber dies so engagiert wie gewohnt. Mit dem Thema der Sitzung, dem erinnerungspolitischen Verhältnis zwischen Alten und Neuen sozialen Bewegungen, befassten sich die eingangs diskutierten Papiere von Knud Andresen und Ulf Teichmann.

Andresen ging dem „Vergessen der Lehrlingsbewegung in den Gewerkschaften“ auf die Spur. Dieser arbeitsweltliche Teil des jugendlichen Demokratisierungsbegehrens von 1968 wurde in den Gewerkschaften lange kaum erinnert. Andresen führte dies unter anderem auf ein instrumentelles Verständnis von Erinnerungsarbeit zurück, dass für Organisationen typisch sei. Deren Interessen lägen dabei auf Parteinahme, Identitätsstiftung und Orientierung in der Gegenwart. Da Gewerkschaften in diesem Sinne oft Erzählungen von Einheit der Organisation erinnerten, sei die konfliktbehaftete Geschichte der Lehrlingsbewegung kaum erinnert worden. Ein vermehrtes Erinnern an Lehrlingsproteste der Jahre ab 1969, dass seit etwa 2015 zu beobachten sei, erklärte er damit, dass es sich nun nicht mehr um „qualmende Geschichte“ handele. Die in den Gewerkschaften Aktiven besäßen inzwischen eine persönliche Distanz zur Lehrlingsbewegung, was der Erinnerung Konfliktpotenzial nimmt. Zudem habe eine Einordnung von 1968 als etwas Studentisches und damit den Gewerkschaften Äußerliches die Erinnerung an den Anteil der Arbeiterjugend an der Jugendrevolte in den Gewerkschaften erschwert.

Teichmann hatte mit einem etwas anderem Fokus untersucht, wie „Erinnerungspolitik zwischen Gewerkschaften und Neuen sozialen Bewegungen“ Anwendung fand. Am Beispiel des 1. Mai in der Studentenbewegung (1968), der Lehrlingsbewegung (1971) und der alternativen Linken (ab 1977) sowie Mobilisierungen der Neuen Friedensbewegung (Antikriegstag 1979, Ostermarsch 1983) zeigte er auf, dass beide Seiten Erinnerungspolitik nutzten und dass diese sowohl zur Abgrenzung wie zur Annäherung gebraucht werden konnte. Beispielsweise erinnerte die Friedensbewegung im Ruhrgebiet 1983 daran, dass 1959 Gewerkschafter an einer Blockade eines britischen Militärstützpunktes in Dortmund teilgenommen hatten, um gegen atomare Bewaffnung zu protestieren. So sollten die Arbeiter der Region und die Gewerkschaften auch 1983 für zivilen Ungehorsam gewonnen werden. Darüber hinaus stellte Teichmann die Frage in den Raum, inwiefern schon die Prägung des Begriffs Neue soziale Bewegungen in den frühen 1980er Jahren ein erinnerungspolitischer Akt war, der ein einseitiges Bild ihres Gegenteils, beispielsweise der Gewerkschaften konservierte. Auch in der Zeitgeschichte verstelle die dichotome Vorstellung von Alten und Neuen sozialen Bewegungen noch heute den Blick auf vielfältige Schattierungen im politischen Feld.

In der Diskussion der beiden Papiere wurde die erinnerungspolitische Relevanz der Lehrlingsbewegung als Teil der Demokratisierungsansprüche der 1960er und 1970er Jahre hervorgehoben. Zugleich wurde appelliert, auch die Konflikte zwischen Gewerkschaften und sozialen Bewegungen offen zu erinnern.

Unabhängig vom Sitzungsthema präsentierte schließlich Kristina Meyer Überlegungen über die „Auseinandersetzung der Gewerkschaften mit der NS-Vergangenheit“. Sie zeigte sich verwundert darüber, wie wenig die Jahre zwischen 1933 und 1944 berücksichtigt würden. Es gebe einen starken Fokus auf die Zerschlagung der Gewerkschaften 1933 und die gewerkschaftliche Beteiligung am Attentat vom 20. Juli 1944 sowie den Wiederaufbau der Gewerkschaften als Einheitsorganisationen 1945. Dabei fand sie bis in konkrete Formulierungen hinein auffällige Kontinuitäten bei Erinnerungsakten seit den 1980er Jahren. Zudem stellte sie in Frage, inwiefern das Festhalten der Gewerkschaften am Faschismus-Begriff angesichts differenzierter Forschungen zeitgemäß ist.

In der Diskussion wurde hervorgehoben, dass der Fokus auf Anfangs- und Endzeit des Nationalsozialismus auch auf ein Ausblenden der Anpassung der Gewerkschaftsorganisationen und zahlreicher individueller Akteure bis zum Mai 1933 und auch darüber hinaus zurückzuführen sei. Dabei lasse es die Forschungslage durchaus zu, Anpassung und Widerstand von Gewerkschafter_innen vielfältiger zu erinnern. Doch bedürfe es Transferwege, auf denen neuere wissenschaftliche Erkenntnisse ihren Weg in die Gewerkschaften finden können. Das Festhalten am Faschismusbegriff, so wurde von gewerkschaftlicher Seite betont, ergebe sich auch aus dem identitätsstiftenden Charakter des Antifaschismus für die Gewerkschaften.

Ulf Teichmann
 

Weiterführende Links

Ulf Teichmann beim Institut für soziale Bewegungen der Ruhr-Universität Bochum

Kristina Meyer bei der Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung
 

Arbeitspapiere zur Sitzung

Ulf Teichmann: Erinnerungspolitik zwischen Gewerkschaften und Neuen sozialen Bewegungen

Kristina Meyer: Gewerkschaften und NS-Vergangenheit

 

Zum Thema

In der Forschung zu sozialen Bewegungen wird häufig unterschieden zwischen den ‚Neuen sozialen Bewegungen‘ und den ‚alten‘ sozialen Bewegungen wie der Arbeiterbewegung, wobei diese Zuschreibung des Alten schon ein erinnerungspolitischer Akt ist. Für die Erinnerungsgeschichte sozialer Demokratie greift diese Perspektive auf politischen Protest und soziale Bewegungen also zu kurz.

Stattdessen stellen sich andere Fragen: Welche Bewegungen berufen sich auf welche, gegebenenfalls gemeinsame, Traditionen? Gibt es dabei konkurrierende Narrative zu einschlägigen Protestereignissen? Beriefen sich die ‚68er-Bewegung‘ und die sogenannten ‚Neuen sozialen Bewegungen‘ auf die Tradition der Arbeiterbewegung oder herrschte hier Abgrenzung vor? Welchen Platz haben heute die Proteste der 1960er bis 1980er Jahre im kollektiven Gedächtnis der Akteure sozialer Demokratie?

Konkret: Wenn Ökologie und Feminismus heute als Grundwerte der Gewerkschaftsbewegung präsentiert werden, geschieht das dann im Rückgriff auf ‚Neue soziale Bewegungen‘ oder auf länger zurückliegende ‚eigene‘ Traditionen? Und nicht zuletzt: Wie werden und wurden, an der Schnittstelle von Gewerkschaften und Bewegungsakteur_innen, über die Erinnerung an Protest Politik- und Organisationsverständnisse ausgehandelt und gegebenenfalls verändert?