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Jahreskonferenz des Internationalen Bundes Christlicher Gewerkschaften. Das Bild zeigt das Präsidium während der Begrüßungsworte des französischen Präsidenten des Bundes Moris Bouladoux

Spiegel politischer Konflikte: Internationale Gewerkschaftspolitik

Gewerkschaften sind als nationale Organisationen entstanden. Doch schon am Ende des 19. Jahrhunderts verbinden sich Berufsverbände und gewerkschaftliche Dachverbände auf internationaler Ebene. Zudem suchen sie Kontakt zu internationalen Institutionen, wie z.B. zur Internationalen Arbeitsorganisation. So wollen sie in internationaler Solidarität für eine allgemeine Verbesserung der Arbeits- und Lebenssituation der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen sorgen.

Bereits 1889 kommt es zur Bildung von internationalen Vereinigungen von Berufs- und Branchengewerkschaften, den Internationalen Berufssekretariaten (IBS). 1913 wird dann der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) als Zusammenschluss der sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Gewerkschaftsdachverbände gegründet. Etwa zur selben Zeit schließen sich auch die Christlichen Gewerkschaften auf internationaler Ebene zusammen: 1908 wird das Internationale Sekretariat der Christlichen Gewerkschaften gegründet, 1920 dann der Internationale Bund Christlicher Gewerkschaften (IBCG).

Der Schwerpunkt der internationalen Aktivitäten liegt zunächst auf der Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen in den bereits industrialisierten Ländern Europas und Nordamerikas. Hinter diesem Bemühen steht zum einen der Wunsch, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer insgesamt zu verbessern. Zum anderen aber geht es auch darum, etwaige „Schmutzkonkurrenz“ im Interesse des jeweiligen nationalen Wirtschaftsstandortes zu verhindern.

Der Beginn des Ersten Weltkrieges zeigt die Grenzen der internationalen Gewerkschaftskooperation. Die meisten Gewerkschaften, auch die deutschen, lassen sich in die Kriegsanstrengungen ihres Heimatlandes einbinden. Das bedeutet eine schwere Belastung für den Neubeginn der internationalen Zusammenarbeit nach dem Krieg. Dieser wird zudem überschattet von der Spaltung der sozialdemokratisch-sozialistischen Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung: Neben den IGB tritt 1921 die Rote Gewerkschaftsinternationale (RGI). Die IBS stehen letzterer distanziert gegenüber und halten überwiegend Kontakt zum IGB. Auch die Anarcho-Syndikalisten gründen eine eigene internationale Gewerkschaftsorganisation: Weihnachten 1922 wird in Berlin die Internationale Arbeiter-Assoziation (IAA) geschaffen. Einige Jahre später, 1928, schließen sich die liberalen Verbände in der Zentrale des Internationalen Bundes neutraler Gewerkschaften zusammen.

Mit der Gründung der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO) im Jahre 1919 gewinnt die internationale Gewerkschaftsbewegung eine neue politische Arena, auf der sie aktiv wird. Die internationalen Gewerkschaftsbünde und die IBS bringen in den 1920er Jahren ihre Vorschläge zur Gestaltung des Arbeitsschutzes, des Arbeitsrechts und des Sozialversicherungswesens ein. Damit unterstützen sie das Bemühen, weltweit zu einheitlichen Standards der Arbeitsbedingungen zu gelangen.

Die Konflikte zwischen RGI und IGB in den 1920er Jahren führen zu einer Schwächung der internationalen Gewerkschaftsarbeit. Den Siegeszug faschistischer bzw. nationalsozialistischer Bewegungen in Italien, Spanien und Deutschland und die Zuspitzung der internationalen Konflikte bis hin zu einem erneuten Weltkrieg können die internationalen Gewerkschaftsorganisationen nicht verhindern. Und der Zweite Weltkrieg lässt die internationale Gewerkschaftsarbeit nahezu zum Erliegen kommen. Eine Ausnahme bildet die Internationale Transportarbeiter-Föderation (ITF), die schon in der Zwischenkriegszeit aktiv in das politische Geschehen eingreift und sich vor allem in den Kampf gegen den aufziehenden Faschismus/Nationalsozialismus und in den politischen Widerstand in Deutschland einschaltet.

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges erlebt die Idee der gewerkschaftlichen Zusammenarbeit erneut eine Renaissance. Die Gründung des Weltgewerkschaftsbundes (WGB) als richtungsübergreifende Einheitsorganisation scheint die Chance zu einer einheitlichen internationalen Gewerkschaftsbewegung zu eröffnen. Doch die wachsende Konfrontation zwischen der UdSSR und den USA überschattet bald die Entwicklung des WGB. 1949 kommt es zur Spaltung: Vom Weltgewerkschaftsbund spaltet sich der Internationale Bund Freier Gewerkschaften (IBFG) ab.

Im Zuge des Prozesses der europäischen Einigung schließen sich die im IBFG verbundenen Gewerkschaften der sechs EWG-Mitgliedsstaaten 1958 zum Europäischen Gewerkschaftssekretariat zusammen. Aus dem Sekretariat geht im April 1969 der Europäische Bund Freier Gewerkschaften (EBFG) hervor, der sich im Februar 1973 zum Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) umbildet.

Nach der Auflösung des „Ostblocks“ verliert der WGB zwar an Bedeutung, aber er besteht weiterhin fort. Im Oktober/November 2006 schließt sich der IBFG mit dem Weltverband der Arbeitnehmer (WVA), der 1968 aus dem Internationalen Bund Christlicher Gewerkschaften (IBCG) hervorgeht und dem 144 Mitgliedsorganisationen in 116 Ländern, vorwiegend Entwicklungsländern, angehören, und acht weiteren Gewerkschaften zum Internationalen Gewerkschaftsbund (IGB) zusammen. 2006 wird der DGB-Vorsitzende Michael Sommer als Vize-Präsident, 2010 als Präsident des IGB gewählt.

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