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Die Vorsitzenden der Richtungsgewerkschaften, von links:Bernhard Otte, ab 1929 Vorsitzender des Gesamtverbandes Christlicher Gewerkschafter, Heinrich Imbusch, Vorsitzender des christlich-nationalen Deutschen Gewerkschaftsbundes, Theodor Leipart, Vorsitzender des ADGB, um 1926

Die Arbeiterbewegung organisiert sich über nationale Grenzen hinaus: Erste internationale Gewerkschaftszusammenschlüsse

Schon die ersten Gewerkschaften, die nach der Mitte des 19. Jahrhunderts zumeist als Berufs- oder Berufsgruppenverbände gegründet werden, knüpfen internationale Verbindungen.

Ziel der zumeist bilateralen Kontakte ist der Abschluss von Abkommen, in denen gegenseitig die Mitgliedschaft in einem Berufsverband anerkannt und z.B. Reiseunterstützungen vereinbart werden. Damit sollen grenzüberschreitende Streikbruch-Aktivitäten unterbunden werden. Diese eher instabilen Verbindungen münden, unterstützt vom internationalistischen Geist, der 1889 auch die Gründung der Sozialistischen Internationale trägt, im selben Jahr in die Bildung von internationalen Vereinigungen von Berufs- und Branchengewerkschaften. Obwohl die Initiative vielfach von sozialdemokratischen bzw. sozialistischen Gewerkschaften ausgeht, steht die Mitgliedschaft Verbänden ganz unterschiedlicher politisch-weltanschaulicher Orientierung offen. So schließen sich den Internationalen Berufssekretariaten (IBS) vielfach auch syndikalistische sowie liberale und christliche Gewerkschaften an. Dabei stehen Verbände, die weiterhin ihrer beruflichen und handwerklichen Tradition treu bleiben, neben Verbänden, die sich für ganze Branchen oder Industriezweige öffnen.

Als 1913 der Internationale Gewerkschaftsbund (IGB) gegründet wird, erfolgt eine gegenseitige Anerkennung und Abgrenzung der Tätigkeitsfelder: Der IGB ist der internationale Zusammenschluss sozialdemokratisch-sozialistisch orientierter gewerkschaftlicher Dachverbände, die IBS bilden Zusammenschlüsse der unterschiedlichen Berufs- bzw. Branchengewerkschaften. Letztere haben keine gemeinsame „Zentralstelle“, sondern die Leitung des jeweiligen Sekretariats wird zumeist von einem starken nationalen Verband übernommen. Angesichts der Stärke und der zentralen Lage in Europa übernehmen zahlreiche deutsche Gewerkschaften diese Aufgabe; so haben 1913 27 der 32 Sekretariate in Deutschland ihren Sitz.

Etwa zur selben Zeit schließen sich auch die Christlichen Gewerkschaften auf internationaler Ebene zusammen: 1908 wird das Internationale Sekretariat der Christlichen Gewerkschaften gegründet; 1920 dann der Internationale Bund Christlicher Gewerkschaften (IBCG), der seinen Sitz in Utrecht hat. Ebenfalls in Utrecht sitzt die Zentrale des Internationalen Bundes neutraler Gewerkschaften, der 1928 von den liberalen Verbänden gegründet wird, aber keine große Bedeutung erlangt.

Der Schwerpunkt der internationalen Aktivitäten liegt zunächst auf der Vereinheitlichung der Arbeitsbedingungen in den bereits industrialisierten Ländern Europas und Nordamerikas. Hinter diesem Bemühen steht zum einen der Wunsch, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen insgesamt zu verbessern. Zum anderen aber geht es auch darum, etwaige „Schmutzkonkurrenz“ im Interesse des jeweiligen nationalen Wirtschaftsstandortes zu verhindern.

Auf die Probe gestellt wird die programmatisch betonte Idee der internationalen Solidarität, wenn in einem der großen Industrieländer gestreikt wird. Zwar werden oftmals internationale Spendenaktionen für die im Streik befindlichen Arbeiter und Arbeiterinnen veranstaltet. Doch nur selten kommt es zu Solidaritätsstreiks. Vielmehr nehmen es z.B. die Bergarbeiter in England gerne hin, dass der Kohlenabsatz „ihrer“ Kohle steigt, wenn die deutschen Bergleute die Arbeit niederlegen – und umgekehrt.

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