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Ein Bild von einer Demonstartion

Den Schutz für Schwache ausbauen – die Demokratie stärken: Gewerkschaften und Sozialstaat

Menschenwürdig arbeiten und leben – das ist von je her das zentrale Anliegen der Gewerkschaften. Seit ihrem Bestehen kämpfen sie für höhere Einkommen und kürzere Arbeitszeiten, für die Absicherung von Risiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit und Alter und für mehr Mitbestimmung in Betrieb und Unternehmen. Sie sind es, die das Modell des demokratischen Sozialstaats mit Leben erfüllt haben.

Die Anfänge Ende des 19. Jahrhunderts

Erste große Schritte auf dem Weg zum modernen Sozialstaat sind die Sozialgesetze, die unter Reichskanzler Otto von Bismarck in den 1880er Jahren verabschiedet werden. Bismarck verfolgt damit eine Doppelstrategie: Nachdem er die sozialdemokratische Partei und ihr nahestehende Gewerkschaften durch die Sozialistengesetze ausgeschaltet hat, will er durch Sozialversicherungsgesetze der Arbeiterbewegung den Wind aus den Segeln nehmen. Auch die Einrichtung der ersten betrieblichen Arbeiterausschüsse in den Jahren um die Jahrhundertwende ist dem Druck der Arbeiterbewegung zu verdanken. Gleiches gilt für die Schaffung des Arbeitsrechts und der Arbeitsgerichtsbarkeit, die bereits im Kaiserreich auf den Weg gebracht werden.

Doch die ersten sozialpolitischen Verbesserungen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es unter Kaiser Wilhelm II. um die bürgerlichen Grundrechte schlecht bestellt ist. Erst nach dem Ersten Weltkrieg werden mit Revolution und Gründung der Weimarer Republik Meinungs- und Versammlungsfreiheit, Vereinigungsfreiheit und das gleiche und geheime Wahlrecht für Männer und Frauen gesetzlich verankert. Gewerkschaften und SPD haben an diesen Errungenschaften einen großen Anteil.

 

Hören: Siegfried Aufhäuser

Der Vorsitzende des Angestellten-Dachverbandes AFA plädiert vor den Reichtstagswahlen 1928 für eine einheitliche Sozialgesetzgebung für Arbeiter und Angestellte.

© SPD/FES

Von der Weimarer Republik in die NS-Diktatur

Die Gewerkschaften gehören von Anfang an zu den Befürwortern der parlamentarischen Demokratie, die sie 1918/19 mit der Unterstützung der Wahl zur Nationalversammlung mit aus der Taufe heben. Das Ziel der Weimarer Reichsverfassung, einen demokratischen Sozialstaat aufzubauen, entspricht den Vorstellungen von Freien und Christlichen Gewerkschaften sowie Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen.

Weimarer Reichsverfassung 11. August 1919 (pdf)

Mit dem Eintreten für die bürgerlichen Freiheiten und Rechte sichern die Gewerkschaften nicht nur die eigenen Existenz- und Arbeitsbedingungen. Sie leisten damit zugleich einen Beitrag zur Gestaltung einer demokratischen Gesellschaftsordnung. Den Gewerkschaften ist klar, dass Demokratie nicht allein eine Frage der politischen Ordnung ist und sein darf, sondern auch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen in wirtschaftlichen und sozialen Fragen braucht. Sie machen sich daher stark für das Betriebsrätegesetz (1920) und bringen den Sozialstaat, etwa durch das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (1927), voran. Sie engagieren sich für den sozialen Wohnungsbau und treten mit ihren Programmen zu Mitbestimmung und Mitbesitz sowie zur Wirtschaftsdemokratie für die gesellschaftliche Absicherung der politischen Demokratie ein.

In der Weltwirtschaftskrise der frühen 1930er Jahre wehren sich die Gewerkschaften gegen den Abbau sozialer Leistungen und demokratischer Rechte. Verhindern können sie die katastrophalen sozialen und politischen Folgen der Krise nicht. Mit der Machtübertragung an Adolf Hitler am 30. Januar 1933 und der Zerschlagung der eigenen Organisationen erleben sie die schwerste Niederlage in ihrer Geschichte. Im Exil und in Widerstandsgruppen im Reich entwerfen Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen Pläne für den Wiederaufbau von Demokratie und Rechtsstaat nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur.

Neuanfang in West und Ost

Kaum ist der Krieg beendet, werden Gewerkschaften gegründet, Betriebsräte gebildet und Konzepte für die Wiederherstellung und Sicherung des sozialen Rechtsstaats umgesetzt. Die Gewerkschaften, die die Spaltung in Richtungsgewerkschaften überwinden, beteiligen sich aktiv am Wiederaufbau.

In den Westzonen gestalten sie die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland mit und tragen so dazu bei, dass der Ausbau des demokratischen Sozialstaats zum verfassungsmäßigen Ziel wird. Es entspricht den gewerkschaftlichen Vorstellungen, dass die Bundesrepublik Deutschland im Grundgesetz aus dem Jahr 1949 als „demokratischer und sozialer Bundesstaat“ (Artikel 20) und als „demokratischer und sozialer Rechtsstaat“ (Artikel 28) bestimmt wird. In Artikel 9 wird zudem die Vereinigungsfreiheit gesichert, auf deren Grundlage die Gewerkschaften unabhängig von Staat, Parteien und Arbeitgebern handeln.

In der Sowjetischen Besatzungszone entsteht die Deutsche Demokratische Republik, die in ihrer Verfassung aus dem Jahr 1949 als föderaler Rechtsstaat und parlamentarische Demokratie beschrieben wird. Für die reale Entwicklung bleiben diese Staatsbestimmungen jedoch wirkungslos. Und nach der Verfassung von 1968 ist die DDR ein „sozialistischer Staat deutscher Nation“, d.h. die „politische Organisation der Werktätigen in Stadt und Land, die gemeinsam unter Führung der Arbeiterklasse und ihrer marxistisch-leninistischen Partei den Sozialismus verwirklichen“. In der Realität entwickelt sich die DDR zu einer Diktatur unter der Herrschaft der Sozialistischen Einheitspartei, der auch die zentrale Einheitsgewerkschaft des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes nachgeordnet ist. Trotz des umfassenden Systems sozialpolitischer Regelungen entspricht die DDR also nicht dem Modell des demokratischen Sozialstaats.

Ja zur Sozialen Marktwirtschaft – mit demokratischer Flankierung

Mit der demokratischen Meinungs- und Willensbildung in den Gewerkschaften und mit der Ausweitung der Mitbestimmungsrechte in Betrieb und Unternehmen leisten die Gewerkschaften in der jungen Bundesrepublik Deutschland einen wichtigen Beitrag zur Verankerung demokratischer Prinzipien in der deutschen Gesellschaft.

Nach anfänglichen Vorbehalten erkennen die seit 1949 im Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossenen Gewerkschaften die von Ludwig Erhard (CDU) propagierte Soziale Marktwirtschaft an und wirken bei der Ausgestaltung des Sozialsystems mit. Sie unterstützen die Einführung der dynamischen Rente, streiken für die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für Arbeiter*innen, engagieren sich beim Ausbau des sozialen Wohnungsbaus und drängen auf eine Bildungspolitik, die Kindern aus Arbeiterfamilien den Zugang zu Bildung und Ausbildung erleichtert. Dabei können sich die Gewerkschaften häufig auf eine breite Koalition von Kirchen, Sozialverbänden und politischen Parteien stützen.

Außerdem sorgen sie dafür, dass das marktwirtschaftliche Modell durch demokratische Elemente ergänzt wird. So setzen sie 1951 die Einführung der paritätischen Mitbestimmung in der Montanindustrie durch, und sie erreichen eine Regelung zur betrieblichen Mitbestimmung. Sie müssen aber die Aufspaltung der Belegschaften in der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst durch Betriebsverfassungsgesetz (1952) und Personalvertretungsgesetz (1955) hinnehmen. Außerdem stehen die Gewerkschaften in den folgenden Jahren in der ersten Reihe, wenn es darum geht, den Abbau sozialer und demokratischer Rechte zu verhindern, wie zum Beispiel beim Konflikt um die Notstandsgesetze in den 1960er und um das Asylrecht seit den 1980er Jahren.

Mit immer neuen Initiativen bemühen sich die Gewerkschaften, die Mitbestimmungsrechte zu sichern bzw. zu erweitern, und mit ihrer Tarifpolitik leisten sie einen wichtigen Beitrag zur Ausgestaltung des Sozialstaats. Ganz zu schweigen von den ungezählten Aktionen der Betriebsräte, mit denen die Arbeitsbedingungen in den Unternehmen gestaltet, betriebliche Sozialleistungen erstritten und in Krisenzeiten der Abbau von Arbeitsplätzen verringert oder verhindert werden. In den Aufsichtsräten der großen Unternehmen haben Vertreter*innen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Sitz und Stimme.

Jahrzehnte lang ist diese Politik von Erfolg gekrönt. Es sieht so aus, als könnten Staat und Gewerkschaften den Kapitalismus zähmen. Das Geheimnis des Erfolgs: Es besteht Konsens zwischen den großen gesellschaftlichen Kräften, die Überlegenheit der Sozialen Marktwirtschaft gegenüber der sozialistischen Planwirtschaft zu beweisen. Doch in den späten 1970er Jahren stößt der Ausbau des Sozialstaats an Grenzen.

Der Sozialstaat unter Druck

Mit der Deutschen Einheit 1990 wird das westdeutsche Wirtschafts- und Gesellschaftsmodell auf die Neuen Bundeländer übertragen. Das führt zu tiefgreifenden wirtschaftlichen und sozialen Verwerfungen in den Neuen Bundeländern. Die Anfang der 1990er Jahre unter dem Dach des Deutschen Gewerkschaftsbundes vereinten Gewerkschaften kämpfen für eine Angleichung der Arbeits- und Einkommensverhältnisse in den Alten und Neuen Bundesländern. Doch der Weg dahin wird nur in kleinen Schritten bewältigt – mit schwerwiegenden Folgen für die Entwicklung der politischen Kultur.

Die in den späten 1970er Jahren begonnene Begrenzung von sozialen Leistungen, die sich mit den „Hartz-Gesetzen“ zu Beginn des 21. Jahrhunderts zuspitzt, stößt auf den erbitterten Protest der Gewerkschaften. Dabei wenden sich die Gewerkschaften nicht grundsätzlich dagegen, den Sozialstaat an die neuen Herausforderungen der internationalen Konkurrenz und des demographischen Wandels anzupassen. Doch sie lehnen es ab, dass die Belastungen allein auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer abgewälzt werden. Zusammen mit Sozialverbänden, Kirchen und sozialen Bewegungen wehren sie sich speziell gegen Kürzungen bei Arbeitslosenversicherung, Krankengeld und Renten sowie gegen die Aushöhlung von Arbeitnehmerrechten. Dennoch werden soziale Leistungen gekürzt. Und immer mehr Menschen werden aus den festen Arbeitsverhältnissen gedrängt, prekäre Arbeitsverhältnisse nehmen zu, die Altersarmut, insbesondere bei Frauen, wächst. So fühlen sich viele von Staat und auch Gewerkschaften nicht ausreichend unterstützt. Andere betrachten hingegen die vielfach von den Gewerkschaften erkämpften sozialen Standards als selbstverständlich gegeben und glauben, diese seien für immer gesichert. Eigenes Engagement sei also nicht mehr nötig.

Obwohl die Gewerkschaften unter Mitgliederrückgang leiden, können sie auch in den Jahren nach der Jahrtausendwende gegen heftige Widerstände Arbeitszeitverkürzungen und Lohnerhöhungen erkämpfen. Außerdem setzen sie einzelne soziale Verbesserungen durch, z.B. die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren und die Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes, der nach und nach deutlich erhöht wird.

Die Substanz des demokratischen Sozialstaats bleibt erhalten. Doch sozial- und gesellschaftspolitische Errungenschaften sind nicht für alle Zeiten gesichert. Das lehrten schon die Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre und vor allem die nationalsozialistische Diktatur. Und das belegen die aktuellen Herausforderungen.

Neue Herausforderungen

Die Bankenkrise 2008 zeigt, dass sich ein ungehemmter Finanzkapitalismus entwickelt hat, der mit nationalstaatlichen Instrumenten nicht zu steuern und zu kontrollieren ist. Die zunehmende Verzahnung internationaler Produktions- und Handelsströme begrenzt die Möglichkeiten, auf nationaler Ebene Wirtschafts- und Sozialpolitik zu machen. Zur Abfederung der Folgen einer schrankenlosen Globalisierung hilft nur ein Schulterschluss der Gewerkschaften weltweit. Aber der ist angesichts unterschiedlicher nationaler Interessen nicht so einfach herzustellen.

Seit Anfang der 2020er Jahre häufen sich die Krisen: Die Folgen der Corona-Pandemie, des Krieges Russlands gegen die Ukraine, der Migrationsbewegungen und der Klimakrise belasten die öffentlichen Haushalte. Investitionen in die Infrastruktur – von der Digitalisierung über die Erneuerung der Verkehrsverbindungen bis zum Ausbau des Bildungssystems – sind erforderlich, aber schwer zu finanzieren. Ein weiterer Ausbau des Sozialstaats, dessen Hilfe eine wachsende Zahl von Menschen gerade jetzt bräuchte, ist nicht in Sicht. Vielmehr werden Forderungen nach Senkung der Sozialleistungen laut. Unter dem Slogan „Wer Demokratie stärken will, darf die Sozialleistungen nicht runterschrauben“ erneuern die Gewerkschaften im Sommer 2024 ihre Forderungen: Bekämpfung der Armut, speziell der Kinderarmut; Chancengleichheit im Bildungswesen; Stärkung der Inklusion; Ausbau von Weiterbildungsmaßnahmen; Einführung eines gerechten Steuersystems; Verstärkung des sozialen Wohnungsbaus; Reform des Pflegesystems; Einführung einer Vollversicherung für den Pflegefall; Sicherung des Rentensystems ohne Verlängerung der Lebensarbeitszeit; Festhalten an der Tarifbindung; Sicherung und Ausbau der Mitbestimmung.

Meinungsumfragen und Wahlergebnisse 2023/24 zeigen: Nationalismus, Rassismus und Antisemitismus sowie Verachtung und Ablehnung des demokratischen Staats breiten sich aus. Die Gewerkschaften treten dem im Verbund mit politischen Parteien des demokratischen Spektrums und zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen entgegen. Ihre Parole lautet: „Nie wieder ist jetzt“. Es geht um die Sicherung des demokratischen Sozialstaats.

Gerhard A. Ritter, Der Sozialstaat. Entstehung und Entwicklung im internationalen Vergleich, 3. Aufl., München 2010