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Ein Foto von einer Demonstration am 08.03.2024 den internationalen Frauentag in Berlin.

Entfernte Verwandte: Gewerkschaften und Neue soziale Bewegungen

Mit dem Begriff der „Neuen sozialen Bewegungen“ wird in Deutschland zumeist die Vielfalt der seit den späten 1960er Jahren entstehenden Gruppierungen und Verbände bezeichnet. Deren Spektrum reicht von der Studenten- über die Friedens- und die Frauen- bis hin zur Umweltbewegung und zu LSBTQ-Gruppierungen. Manche stehen in direkter Konkurrenz oder auch Gegnerschaft zu den Gewerkschaften. Mit anderen arbeiten die Gewerkschaften bei der Modernisierung und Demokratisierung der deutschen Gesellschaft zusammen.

Als Soziale Bewegung werden in der Regel Zusammenschlüsse von Menschen bezeichnet, die sich auf ein bestimmtes Problem konzentrieren, sich zumeist in lockeren und vielfältigen Organisationen engagieren und ihre Aktivitäten nicht auf die Bahnen der parlamentarischen Meinungs- und Willensbildung beschränken. Merkmale sind aktionsbetonte Formen der politischen Willensbekundung und die Herausbildung einer eigenen Kultur, manchmal auch Lebenswelt.

Die Gewerkschaften haben sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entwickelt als Teil einer damals „neuen“ sozialen Bewegung: der Arbeiterbewegung. Mit dem Zustrom an Mitgliedern und dem Ausbau der Verwaltung sowie mit der zunehmenden Integration in die bestehende Gesellschaftsordnung wird ihr Bewegungscharakter nach und nach weniger erkennbar. Er lebt aber z.B. in Arbeitskämpfen und Kundgebungen bis heute fort.

Immer wieder neu: Soziale Bewegungen fordern die Gewerkschaften heraus

Im Laufe des 20. Jahrhunderts bilden sich immer wieder neue soziale Bewegungen, zu denen sich die Gewerkschaften positionieren.

So werden die Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg durch die Rätebewegung herausgefordert. Doch bald können sie diese integrieren. Aber mit der Kommunistischen Partei, der Revolutionären Gewerkschaftsorganisation und einer vielfältigen Kulturarbeit entwickelt sich eine neue Richtung innerhalb der Arbeiterbewegung. Diese bildet mit ihrer Revolutionsideologie und der grundsätzlichen Ablehnung schrittweiser Reformen ein eigenes Milieu aus. Die Grenzen zwischen dieser Bewegung und den „alten“ Richtungsgewerkschaften sind unüberwindlich.

Nach dem Zweiten Weltkrieg verläuft die Entwicklung in den beiden deutschen Staaten unterschiedlich.

In der DDR wird jede Mobilisierung unabhängiger Bewegungen von SED und Staat im Keim erstickt. Das ändert sich erst in den 1980er Jahren, als sich – auch mit der Unterstützung der Kirchen – Frauen-, Friedens- und Umweltbewegungen herausbilden. Angesichts der Staatsnähe des FDGB stellt sich die Frage einer etwaigen Zusammenarbeit nicht.

Das sieht in der Bundesrepublik anders aus. Erstmals öffentlichkeitswirksam präsentiert sich Ende der 1950er Jahre eine neue Bewegung, die Anti-Atomtod-Bewegung. Es kommt zu einer punktuellen Zusammenarbeit mit den Gewerkschaften, die die Bewegung anfangs unterstützen, sich dann aber zurückziehen, als die Forderung nach Ausrufung eines politischen Generalstreiks erhoben wird.

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ist es vor allem die Jugend- bzw. Studentenbewegung, die als eine neue soziale Bewegung den „Zeitgeist“ prägt. Zentrale Themen sind der Protest gegen den Vietnam-Krieg, gegen die autoritären Strukturen der Universitäten, gegen die vielfach als ungebrochen empfundene Kontinuität vom „Dritten Reich“ in die Bundesrepublik Deutschland sowie gegen die Verabschiedung von Notstandsgesetzen. Die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, binden sich in die Protestbewegung gegen die Notstandsgesetze ein: Sie fördern einzelne Initiativen finanziell und beteiligen sich aktiv an den Kundgebungen jener Jahre. Einen politischen Streik gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze lehnen sie ab. Doch die Zusammenarbeit mit der studentisch-intellektuellen Protestbewegung prägt auch die Gewerkschaften.

Und auch die neuen sozialen Bewegungen, die sich seit den 1970er Jahren vielfach Themen widmen, die nach Ansicht der Aktivistinnen und Aktivisten von den Gewerkschaften missachtet werden, haben mit ihren Programmen Einfluss auf die Gewerkschaften. Das gilt insbesondere für die Frauen-, die Friedens- und die Umweltbewegung sowie in der jüngeren Vergangenheit auch für die Anti-Globalisierungs- und die LSBTQ-Bewegungen. Immer wieder kommt es zu punktueller Zusammenarbeit bei Kundgebungen und Demonstrationen. Außerdem bringen die Gewerkschaften zusammen mit Vertreterinnen und Vertretern der Neuen sozialen Bewegungen sowie Kulturschaffenden ihre Ablehnung gegen die seit den 1990er Jahren anwachsenden „rechten“ Bewegungen zum Ausdruck. Sie wenden sich gegen Rassismus und Fremdenhass und treten ein für die Anerkennung der gesellschaftlichen Diversität.

Biegner, Kathrin (Hrsg.: Deutscher Gewerkschaftsbund, Bezirk Nordrhein-Westfalen, Argumente gegen Rechtspopulisten. AfD im Fokus, 2. Aufl., Düsseldorf, September 2016 (Online verfügbar)

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