zurück
Streik der Metallarbeiter in Württemberg-Nordbaden, 29. April 1963

Langsame Annäherungen: Gewerkschaften und Neue soziale Bewegungen ab den 1960er/70er Jahren

In der zweiten Hälfte der 1960er Jahre ist es vor allem die Jugend- bzw. Studentenbewegung, die als eine neue soziale Bewegung den „Zeitgeist“ prägt. Zentrale Themen sind der Protest gegen den Vietnam-Krieg, gegen die autoritären Strukturen der Universitäten, gegen die vielfach als ungebrochen empfundene Kontinuität vom „Dritten Reich“ in die Bundesrepublik Deutschland sowie gegen die Verabschiedung von Notstandsgesetzen.

Die Gewerkschaften, allen voran die IG Metall, binden sich in die Protestbewegung gegen die Notstandsgesetze ein: Sie fördern einzelne Initiativen finanziell und beteiligen sich aktiv an den Kundgebungen jener Jahre. Doch die Forderung nach Ausrufung eines Generalstreiks gegen die Verabschiedung der Notstandsgesetze lehnen sie ab. Denn sie akzeptieren eine demokratische parlamentarische Entscheidung. Durch die Zusammenarbeit mit Studierenden und Intellektuellen, die die Wortführer der Proteste gegen die Notstandsgesetze sind, gewinnen die Gewerkschaften zum einen Anerkennung vor allem bei Akademikerinnen und Akademikern, die der Gewerkschaftsarbeit zuvor vielfach fremd bis ablehnend gegenüberstehen. Zum anderen öffnen sich die Vorstandsverwaltungen für die Einstellung von akademisch ausgebildeten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Das bewirkt eine Professionalisierung und Modernisierung der Gewerkschaftsarbeit. Aber dadurch werden auch Ideen der Neuen Linken in die Gewerkschaften hineingetragen. Das führt zu einer gewissen Entfremdung zwischen „klassischer“ Arbeit(nehm)erschaft und traditionsbewussten Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern einerseits und jungen Gewerkschaftsfunktionärinnen und -funktionären andererseits.

Eine Öffnung über Milieugrenzen hinweg fällt den Gewerkschaften bis in die 1970er Jahre hinein durchaus schwer. Die meisten Gewerkschaften haben zu dieser Zeit noch den Mitgliederschwerpunkt in der männlichen Facharbeiterschaft. Erst langsam wächst der Angestellten- und auch der Frauenanteil in der Mitgliedschaft. In den Neuen sozialen Bewegungen sind Frauen und Angehörige der Mittelschicht oftmals stärker vertreten als in den Gewerkschaften. Überschneidungen der sozialen Milieus von Neuen sozialen Bewegungen und Gewerkschaften zeichnen sich freilich bei den Verbänden ab, deren Mitglieder – wie bei der GEW und bei ver.di – einen hohen Mitgliedsanteil von Angehörigen der Mittelschicht und von Frauen haben.

Gewerkschaften tun sich eben wegen ihrer Konzentration auf die Vertretung der sozio-ökonomischen Interessen ihrer Mitglieder schwer damit, ein der Motivation ihrer Mitglieder zunächst fremdes Thema in den Mittelpunkt ihrer Politik zu stellen. So zeigt sich beim Umgang mit der Frauenbewegung, der Umweltbewegung und der Friedensbewegung, die sich vor allem am Nachrüstungsbeschluss vom Dezember 1979 entzündet, dass die jeweils erhobenen Forderungen von den Gewerkschaften zunächst nur vorsichtig aufgenommen und in ihre Programmatik eingebunden werden. Zu denken ist an die Kampagne zur Reform des Abtreibungsparagraphen 218. Auch bekennen sich die Gewerkschaften durchweg zu einer stärkeren Beteiligung von Frauen in den Gewerkschaftsführungen aller Ebenen, doch die Realität ändert sich nur sehr langsam. Das zentrale Thema der Gleichbehandlung von Frauen und Männern in allen Einkommensfragen wird von den Gewerkschaften zwar immer wieder aufgegriffen, nicht aber wirklich gelöst. Und die Forderungen nach verbessertem Schutz der Umwelt werden von den Gewerkschaften seit den 1980er/90er Jahren programmatisch aufgenommen. Auch unterstützen die Gewerkschaften die Friedensbewegung; so kommt es seit den 1980er Jahren, z.B. am 1. Mai und am Antikriegstag, immer wieder zu gemeinsamen Kundgebungen von Friedensinitiativen und Gewerkschaften, d.h. konkret von Vertretungen einzelner Industrieverbände und der Gewerkschaftsjugend. Doch sowohl bei der Abrüstungs- als auch bei der Umweltfrage sehen die jeweils betroffenen Einzelgewerkschaften in den von ihnen vertretenen Branchen Probleme für die Arbeitsplatzsicherheit. Da bleibt ihr praktisch-politisches Engagement oftmals hinter den eigenen programmatischen Festlegungen zurück.

Durch den Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 stellen sich sowohl in der Energie- und Umweltpolitik als auch in der Rüstungspolitik ganz neue Fragen, auf die die Neuen sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften neue Antworten geben müssen.

Biegner, Kathrin (Hrsg.: Deutscher Gewerkschaftsbund, Bezirk Nordrhein-Westfalen, Argumente gegen Rechtspopulisten. AfD im Fokus, 2. Aufl., Düsseldorf, September 2016 (Online verfügbar)

Stöss, Richard, Gewerkschaften und Rechtsextremismus in Europa, hrsg. von der Friedrich-Ebert-Stiftung, Berlin 2017 (Online abrufbar)

Teichmann, Ulf u. Christian Wicke, Alte und Neue soziale Bewegungen. Einleitende Anmerkungen, in: Arbeit Bewegung Geschichte 17, H. 3, S. 11-19

Teichmann, Ulf, Gemeinsame Traditionen? Erinnerungspolitik zwischen Gewerkschaften und Neuen sozialen Bewegungen, in: Stefan Berger, Wolfgang Jäger u. Ulf Teichmann (Hrsg.), Gewerkschaften im Gedächtnis der Demokratie. Welche Rolle spielen soziale Kämpfe in der Erinnerungskultur?, Bielefeld 2022, S. 567-588

Zimmermann, Susan, Immer mittendrin. Gewerkschafterinnen und linke Aktivistinnen zwischen Arbeiterbewegung und Frauenbewegung, Berlin u. Boston 2021

Ver.di - Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, Bezirk NRW-Süd (Hrsg.), Argumente statt Parolen. Wir hinterfragen die kruden Positionen der AfD, Berlin 2017 (Online abrufbar)