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Beschaeftigte der Reisholz Stahl- und Roehrenwerke demonstrieren am 06.11.1973 in Langenfeld-Immigrath gegen den Verlust von Arbeitsplaetzen.

Ende der Illusionen?: Nach dem „Anwerbestopp“ vom November 1973

Als sich in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit dem Strukturwandel in der Wirtschaft und mit dem Ansteigen der Arbeitslosenzahlen die Anzeichen für das Ende des Nachkriegsbooms häufen, wird im November 1973 ein „Anwerbestopp“ angeordnet.

Zudem wird die Ausreise von ausländischen Arbeitskräften durch eine „Rückkehrprämie“ gefördert. Am 1. Dezember 1983 tritt das „Gesetz zur Förderung der Rückkehrbereitschaft von Ausländern“ in Kraft. Es sieht vor, dass Arbeitskräfte aus Nicht EG-Ländern, die arbeitslos oder von Kurzarbeit betroffen sind, eine Rückkehrhilfe in Höhe von 10.500 DM zuzüglich 1.500 DM für jedes Kind der Familie erhalten sollen, wenn sie die Bundesrepublik zusammen mit ihren Familienangehörigen bis zum 30. Juni 1984 dauerhaft verlassen. Insgesamt hat die Rückkehrpolitik der 1970er/80er Jahre negative Folgen: Sie nährt die Illusion, dass die Rückkehrförderung die „Ausländerfrage“ lösen könne, und sie zerstört das langsam wachsende Vertrauen der in Deutschland lebenden Ausländer und Ausländerinnen in die deutschen Institutionen.

Zwar dürfen keine neuen Arbeitskräfte mehr im Ausland angeworben werden. Doch die in Deutschland lebenden Migranten dürfen mit dem Ziel der Familienzusammenführung weiterhin ihre Ehefrauen und Kinder nachholen. Die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte sinkt, doch die Gesamtzahl der Zugewanderten steigt auf rund 4,6 Millionen (1980). Da der Familiennachzug vor allem von türkischen Familien genutzt wird, wächst der Anteil der Türkinnen und Türken an der Gesamtzahl der Eingewanderten von 20 % (1973) auf 35 % (1980) an.

Der DGB unterstützt „Anwerbestopp“ und „Rückkehrprämien“ und betont, dass dadurch die Position der bereits in Deutschland lebenden deutschen und ausländischen Arbeitskräfte gestärkt werde. Außerdem beharren die Gewerkschaften darauf, dass die Freiwilligkeit der Rückkehr ausländischer Arbeitskräfte gewahrt bleiben müsse. Zugleich fordern sie eine Bevorzugung deutscher Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer bei der Vermittlung freier Arbeitsstellen. Ausländische Arbeitskräfte sollen nur dort beschäftigt werden, wo sich kein deutscher Bewerber und keine deutsche Bewerberin findet. Das trägt dazu bei, dass die ausländischen Arbeitskräfte vor allem in weniger attraktiven und niedriger bezahlten Arbeitsplätzen angestellt werden.

Der „Anwerbestopp“ wird von manchen auch als eine Antwort auf die die Streikbewegungen Anfang der 1970er Jahre gesehen, bei denen die Teilnahme von ausländischen Arbeitskräften deutlich wird. Schon in den 1960er beteiligen sich ausländische Arbeitskräfte an den gewerkschaftlichen Streiks. Doch 1973 sind sie es, die Arbeitskämpfe und Proteste anstoßen oder deren Bild in der öffentlichen Wahrnehmung bestimmen. Während die einen dies als Zeichen eines wachsenden Gefährdungspotenzials interpretieren, das von den migrantischen Arbeitskräften ausgeht, sehen andere darin einen Beleg dafür, dass die Migrantinnen und Migranten in der bundesdeutschen Realität angekommen sind und sich demgemäß in die Konflikte einbringen.

1985 leben 1,5 Millionen ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland. Rund 600.000 von ihnen sind in Gewerkschaften organisiert. Das sind gut 7 % der 8,2 Millionen Mitglieder von DGB und DAG. In einzelnen Gewerkschaften liegt der Organisationsgrad viel höher: So sind im Organisationsbereich der IG Bergbau und Energie in den 1980er Jahren fast 99 % der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter gewerkschaftlich organisiert; in der Mitgliedschaft insgesamt beträgt der Organisationsgrad „nur“ 90 %. Und in dem der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik erreicht der Organisationsgrad der ausländischen Arbeitskräfte Anfang der 1990er Jahre mehr als 70 %. Der relative Organisationserfolg ist sicher auch ein Ergebnis der langsam verstärkten Ausländerarbeit der Gewerkschaften, bietet jedoch auch Anlass zu weiteren Initiativen. Das spiegelt sich z.B. in den „Gewerkschaftlichen Monatsheften“ wider, in denen in den 1980er Jahren zahlreiche Beiträge zum Thema „Migration“ veröffentlicht werden. Außerdem werden in einigen Gewerkschaften Ausländerausschüsse bzw. -arbeitskreise oder Referate für Migrationspolitik eingerichtet. Einen hohen Stellenwert hat die mehrsprachige Beratung, z.B. im Rahmen der Projekte „Faire Mobilität“ und „Faire Integration“. Mitglieder bzw. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind vor allem ausländische Arbeitskräfte, die sich über die eigenen Probleme in der Arbeitswelt oder auch in der Gesamtgesellschaft austauschen und Vorschläge für die Gewerkschaftspolitik ausarbeiten. Die IG Metall bleibt freilich die einzige DGB-Gewerkschaft, die ihre ausländischen Mitglieder zu einer eigenen Personengruppe macht: Der 14. Gewerkschaftstag beschließt 1983, dass die ausländischen Kolleginnen und Kollegen eigene Konferenzen durchführen und Anträge an den Gewerkschaftstag stellen können.

Doch das öffentliche Klima wird geprägt von der Debatte über die Rückkehrmigration sowie überschattet von einer sich ausbreitenden „Ausländerfeindlichkeit“.

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