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ein Bild von Gastarbeitern in Italien vor der Reise nach Deutschland

Der lange Weg zur Anerkennung: Gewerkschaften und „Gastarbeiter“ in den 1950er/60er Jahren

Die Gewerkschaften lehnen anfangs die Anwerbung ausländischer Arbeitskräfte ab: Die „Gastarbeiter“ gelten vielfach als Konkurrenz der deutschen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer; durch das Anwachsen des Arbeitskräfteangebots bestehe die Gefahr, dass eine allgemeine Verbesserung der Arbeitsbedingungen erschwert und der notwendige Strukturwandel einzelner Wirtschaftsbereiche, vor allem in Landwirtschaft und Bauindustrie, verschleppt werde.

Die Gewerkschaften fürchten zudem, dass durch das Anwerben einer Vielzahl von Arbeitskräften die deutschen Sozialstandards verschlechtert werden könnten. Und sie fordern, dass bei der Besetzung von Arbeitsplätzen nur dann „Gastarbeiter“ eingestellt werden dürfen, wenn keine passenden deutschen Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen zur Verfügung stehen. Außerdem wird bemängelt, dass die „Gastarbeiter“ keinen Beitrag dazu leisten würden, den im Rahmen des Wirtschaftsaufschwungs spürbaren Fachkräftemangel zu lindern. 1955 stellt der DGB klar: „Die Gewerkschaften haben keinen Hehl daraus gemacht, daß ihre grundsätzliche Bereitschaft, die Freizügigkeit der Arbeitskraft in Europa anzuerkennen, insoweit eingeschränkt ist, als zunächst einmal die höchstmögliche Vollbeschäftigung im eigenen Land gesichert werden muß.“

In den folgenden Jahren steigt die Zahl der ausländischen Arbeitskräfte rasch von rund 80.000 (1955) über 330.000 (1960) und 1,5 Millionen (1969) auf 2,6 Millionen (1973) an. Durch den Nachzug von Familienmitgliedern wächst die Zahl der Zugewanderten bis zum Jahr 1973 auf gut 3 Millionen an.

Sehen die Gewerkschaften die Zuwanderung von Arbeitskräften zunächst auch durchaus kritisch, so erkennen sie doch die Notwendigkeit, die eigenen Organisationen für die Neuankömmlinge zu öffnen. In den 1960er Jahren gehen die Gewerkschaften auf die zugewanderten Arbeitskräfte zu: Verbandszeitschriften in den verschiedenen Sprachen; Angebote zur persönlichen Hilfestellung bei zahlreichen Problemen des Alltags, nicht nur im Betrieb, sondern auch im Wohnviertel; eigene landsmannschaftliche Gruppierungen innerhalb der Gewerkschaften; das Bemühen, ausländische Arbeitskräfte als Vertrauensleute und Betriebsratsmitglieder zu gewinnen – all das zielt darauf, die zugewanderten Arbeitskräfte möglichst rasch in den Gewerkschaften heimisch werden zu lassen.

Erst im Laufe der 1960er/70er Jahre wird klar, dass die meisten ausländischen Arbeitskräfte mit ihren Familien auf Dauer in Deutschland bleiben werden. Damit stellen sich die Fragen einer wirksamen Integration der ausländischen Arbeitskräfte und ihrer Familien mit bisher nicht gekannter Dringlichkeit: Förderung der Kenntnis der deutschen Sprache, Beschaffung von Wohnraum, Gesundheitsversorgung, Betreuung und Ausbildung der Kinder, soziale Absicherung bei Arbeitslosigkeit und im Alter sowie Regelungen der (politischen) Partizipation – all das muss auf den Weg gebracht werden. Erst nach und nach setzt sich die Erkenntnis durch, dass sich die in Deutschland lebenden Menschen mit ausländischen Wurzeln keineswegs alle an traditionellen Familien- bzw. Rollenbildern orientieren. Vielmehr gibt es auch unter den Zugewanderten einen nennenswerten Anteil von berufstätigen Frauen, die entweder von vornherein zur Arbeit nach Deutschland gekommen sind oder aber in Deutschland Ausbildung und Berufstätigkeit anstreben.

Parallel zur Entscheidung, auf Dauer in Deutschland bleiben zu wollen, bilden sich Wohnbezirke mit eigenen migrantischen Alltagskulturen heraus. Sie sind geprägt nicht nur durch landestypische Lebensformen, sondern auch durch eigene Kultur- und Sportvereine sowie religiöse Gemeinschaften. Die Gewerkschaften finden zunächst nur schwer Zugang zu diesen unterschiedlichen Alltagskulturen. Auch gehen sie vielfach davon aus, dass es sich bei der Lösung der dadurch aufgeworfenen Probleme um gesamtgesellschaftliche und damit vorrangig um politische Aufgaben handelt. So konzentrieren sie sich auf alle Belange des Arbeitslebens. 1971 veröffentlicht der DGB-Bundesvorstand eine Erklärung, in der es heißt: „Der Deutsche Gewerkschaftsbund und die in ihm vereinigten Gewerkschaften vertreten die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Interessen der Arbeitnehmer. Dies gilt im gleichen Umfange für die ausländischen Arbeitnehmer. Es ist daher Aufgabe des Bundes (gemeint ist der DGB), die soziale Integration der ausländischen Arbeitnehmer zu fördern. Der Bund und die in ihm vereinigten Gewerkschaften sind bestrebt, die ausländischen Arbeitnehmer zu befähigen, daß sie gemeinsam mit den deutschen Kollegen wirksam für ihre Interessen eintreten können". Und 1973 folgt die Veröffentlichung von „Stellungnahme und Forderungen des DGB zum Schulunterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer“.

Anfang der 1970er Jahre gründet der DGB ein spezielles Referat für die Vertretung der Interessen ausländischer Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen. Außerdem werden an vielen Orten mehrsprachige Beratungsstellen für Migranten und Migrantinnen eingerichtet. Diese Beratungsbüros werden nicht nur wichtige Anlaufstellen für die Zugewanderten, sondern auch Orte des Austauschs und der politischen Vernetzung. Die ausländischen Arbeitskräfte bringen ihre eigenen Probleme auf diesem Weg in die Gewerkschaften ein und nötigen die Gewerkschaften, sich mit ihren speziellen Problemen vom Aufenthaltsrecht bis zum Wahlrecht zu befassen. Außerdem gewinnt angesichts eines Anstiegs von ausländerfeindlichen Aktionen die Abwehr von Fremdenfeindlichkeit und Rassismus an Bedeutung in der gewerkschaftlichen Politik.

Die Öffnung der Gewerkschaften für Belange der Eingewanderten führt zu Erfolgen bei der Mitgliederwerbung sowie zur wachsenden Beteiligung von ausländischen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern an den zum Teil kämpferischen Tarifkonflikten und an der gewerkschaftlichen Betriebsarbeit, also bei den Vertrauensleuten und in den Betriebsräten. 1973 sind rund 500.000 der insgesamt 2,5 Millionen ausländischen Beschäftigten gewerkschaftlich organisiert. In einzelnen Bereichen erreicht der Organisationsgrad bald den der deutschen Kollegen und Kolleginnen. So sind im Organisationsbereich der IG Bergbau und Energie 1969 rund 80 % der ausländischen Arbeiterinnen und Arbeiter gewerkschaftlich organisiert. Und in dem der Industriegewerkschaft Chemie-Papier-Keramik erreicht der Organisationsgrad der ausländischen Arbeitskräfte Anfang der 1970er Jahre 50 %.

Der relativ hohe Organisationsgrad mag auch darauf zurückzuführen sein, dass sie in Branchen und Betrieben arbeiten, in denen die Gewerkschaften traditionell recht stark vertreten sind. Außerdem verbessert sich die rechtliche Situation der ausländischen Arbeitskräfte: Mit dem neuen Betriebsverfassungsgesetz von 1972 wird die Möglichkeit eröffnet, dass ausländische Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für den Betriebsrat kandidieren und – natürlich – gewählt werden können. In der Tat steigt der Anteil der Betriebsratsmitglieder mit ausländischen Wurzeln in der Folgezeit deutlich an.

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