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Ina Morgenroth (Mitte, l-r), Geschäftsführerin der IG Metall Region Hamburg, Berthold Bose, Landesbezirksleiter Verdi Hamburg, und Katja Karger, DGB-Vorsitzende Hamburg, führen hinter Transparenten mit der Aufschrift 'Europa, jetzt aber richtig!' die Demonstration des DGB zum 1. Main an.

Europapolitik gewinnt an Bedeutung: Gewerkschaften für ein soziales Europa

Von Anfang an unterstützen die deutschen Gewerkschaften den Prozess der europäischen Einigung. Zudem betreiben sie aktiv den Zusammenschluss der nationalen Gewerkschaften zum Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB). Inzwischen haben sie die Europapolitik als Querschnittsaufgabe erkannt, die in nahezu alle Bereiche ihrer eigenen Arbeit eingreift und dementsprechend mitgestaltet werden muss. Und sie wirken darauf hin, die Zusammenarbeit der Gewerkschaften auf der europäischen Ebene zu stärken. Doch der Einfluss auf die soziale Ausgestaltung der europäischen Politik wächst nur langsam.

Frühe Europa-Hoffnungen

Der Zusammenschluss der europäischen Staaten zu einem Bund oder gar zu einem Bundesstaat wird in der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung, also in Partei und Freien Gewerkschaften, bereits in den 1920er Jahren diskutiert. Frieden zwischen den Völkern Europas und wirtschaftliche sowie politische Zusammenarbeit stehen im Mittelpunkt der Programme. Gestritten wird darum, ob die Vereinigung Europas auf einen politischen oder „nur“ auf einen wirtschaftlichen Zusammenschluss zielen soll. Edo Fimmen, seit 1919 Generalsekretär der Internationalen Transportarbeiter-Föderation (ITF) und von 1919 bis 1923 Generalsekretär des Internationalen Gewerkschaftsbundes, bringt den Konflikt 1924 auf die Formel: „Vereinigte Staaten Europas oder Europa A.-G.“

Doch bevor die Pläne konkrete Gestalt annehmen oder gar realisiert werden können, zerstören die Weltwirtschaftskrise und dann die nationalsozialistische Diktatur alle derartigen Hoffnungen. Doch in den Programmen für den demokratischen Wiederaufbau nach dem Ende von Krieg und Diktatur, die Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen im Exil entwerfen, lebt die Idee eines geeinten Europas fort.

Europäische Gewerkschaftszusammenarbeit

Kaum sind die Gewerkschaften nach dem Ende des Krieges wieder gegründet, werden Pläne für eine europäische Einigung diskutiert. So wird bei den Ruhrfestspielen in Recklinghausen bereits vor Gründung des DGB das „Europäische Gespräch“ eingerichtet. Und in der Grundsatzresolution des DGB-Gründungskongresses 1949 heißt es: „Die Gewerkschaften bekennen sich zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft.“ Wenig später setzt sich Ludwig Rosenberg, der spätere DGB-Vorsitzende, mit der Gründung der Montanunion auseinander und betont: „Eine Idee beschäftigt die Welt.“

Bevor der europäische Einigungsprozess wirklich Fahrt aufnimmt, organisieren sich die Gewerkschaften auf europäischer Ebene: Bereits 1950 schließen sie sich im Internationalen Bund Freier Gewerkschaften zur European Regional Organization (ERO) zusammen. Ein Jahr nach der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) (1957) gründen die im IBFG verbundenen Gewerkschaften der sechs EWG-Mitgliedsstaaten das Europäische Gewerkschaftssekretariat in Düsseldorf, dem Sitz des DGB. Aus dem Sekretariat geht im April 1969 der Europäische Bund Freier Gewerkschaften (EBFG) hervor. Bestrebungen, sich auf europäischer Ebene zu organisieren, unternehmen auch der christlich orientierte Weltverband der Arbeit und der kommunistisch dominierte Weltgewerkschaftsbund. Der EBFG bildet sich im Februar 1973 zum Europäischen Gewerkschaftsbund (EGB) um, in dem zunächst sozialdemokratisch orientierte Verbände vorherrschen. Parallel zur Bildung eines europäischen Dachverbandes der Gewerkschaften laufen die Bemühungen, die Branchengewerkschaften auf europäischer Ebene stärker miteinander zu vernetzen und mit den Strukturen des EGB zu verknüpfen.

Europapolitische Initiativen

Es dauert lange, bis feste Strukturen für die Berücksichtigung der Gewerkschaften in den politischen Entscheidungsprozessen auf europäischer Ebene entstehen. Zunächst sind die nationalen Gewerkschaften und auch der EGB darauf verwiesen, ihre Vorstellungen zur Gestaltung der Europapolitik durch Resolutionen und Eingaben an die europäischen Gremien heranzutragen. Erst Mitte der 1980er Jahre wird mit dem Sozialen Dialog eine Plattform geschaffen, auf der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände mit den europäischen Institutionen verhandeln können. Und mit dem Maastrichter Sozialabkommen verpflichtet sich die Kommission, die Sozialpartner vor der Verabschiedung sozialpolitischer Gemeinschaftsmaßnahmen des 1993 zur Europäischen Union (EU) umgebildeten Staatenbundes anzuhören. Doch es gelingt den Gewerkschaften seit den 1990er Jahren nur in Ansätzen, ihre Forderungen nach Schaffung eines „Sozialen Europa” rechtsverbindlich umzusetzen. Insgesamt zeichnet sich seit den 1990er Jahren kaum eine Verstärkung des sozialen Elements im Prozess der europäischen Einigung ab. Die EU entwickelt sich in den 1990er Jahren weitgehend zu einer Deregulierungs-Gemeinschaft.

Seit der Jahrtausendwende werden dann mehrere Programme zur Gestaltung der Arbeitswelt verabschiedet. Und auf der Basis einer Richtlinie aus dem Jahr 2009 wird das Recht der Europäischen Betriebsräte mit dem Gesetz über Europäische Betriebsräte, das am 18. Juni 2011 in Kraft tritt, novelliert. Mit den Krisen seit den 2010er Jahren werden regulierende Eingriffe in Wirtschaftsentwicklung und Finanzsystem notwendig. Die deutschen und europäischen Gewerkschaften drängen darauf, dass diese Maßnahmen durch soziale Hilfen flankiert werden. Das gilt auch für den Green Deal, der, nach Ansicht der Gewerkschaften, nur zusammen mit einem Social Deal erfolgversprechend umgesetzt werden könne.

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