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Mit Transparenten und Plakaten verfolgen Demonstranten am 01.05.2014 in Berlin die Kundgebung des Deutschen Gewerkschaftsbundes DGB zum 1. Mai.

Verstärktes Engagement: Europapolitische Initiativen

Es dauert lange, bis feste Strukturen für die Berücksichtigung der Gewerkschaften in den politischen Entscheidungsprozessen auf europäischer Ebene entstehen. Zunächst sind die nationalen Gewerkschaften und auch der EGB darauf verwiesen, ihre Vorstellungen zur Gestaltung der Europapolitik durch Resolutionen und Eingaben an die europäischen Gremien heranzutragen.

Erst Mitte der 1980er Jahre wird mit dem Sozialen Dialog eine Plattform geschaffen, auf der Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände mit den europäischen Institutionen verhandeln können; und erst im Januar 1989 wird mit dem Lenkungsausschuss für die Koordinierung des Sozialen Dialogs eine feste Form dafür gefunden. Zwar wird im Dezember 1989 von den Staats- und Regierungschefs – mit Ausnahme Großbritanniens – eine „Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer” verabschiedet, die ein „politisches Signal” für die Arbeitnehmer in Europa setzen soll. Für den EGB ist das aber „nur” eine unverbindliche Absichtserklärung. Er versucht in den folgenden Jahren, diesen Rahmen durch einen „sozialen Dialog” auszufüllen. Der Wille zum Dialog zwischen den Sozialpartnern findet seinen Niederschlag im Abkommen vom 31. Oktober 1991, mit dem sich beide Seiten bereit erklären, künftig über sozialpolitische Rahmenvereinbarungen zu beraten. Diese Ankündigung wird auch in das Maastrichter Sozialabkommen übernommen; damit verpflichtet sich die Kommission, die Sozialpartner vor der Verabschiedung sozialpolitischer Gemeinschaftsmaßnahmen des 1993 zur Europäischen Union (EU) umgebildeten Staatenbundes anzuhören. Doch es gelingt den Gewerkschaften seit den 1990er Jahren nur in Ansätzen, ihre Forderungen nach Schaffung eines „Sozialen Europa” rechtsverbindlich umzusetzen.

Doch gerade die nach dem Zusammenbruch des „Ostblocks“ neu in die Europäische Union (EU) aufgenommenen Länder befürchten vielfach eine Überforderung ihrer Wirtschafts- und Sozialsysteme, wenn sie die Standards der „alten“ europäischen Länder voll und ganz übernehmen müssten. Die Unterschiede im Entwicklungsstand zwischen den europäischen Ländern belasten auch die Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gewerkschaften und erschweren das Finden von sozial-ökologischen Kompromissen in der europäischen Politik.

Die Gewerkschaften haben dem Projekt der Europäischen Währungsunion, das 1992 mit dem Vertrag von Maastricht auf den Weg gebracht wird, zugestimmt, obwohl bei den Teilnahmebedingungen von Schuldensenkung und Inflationsbekämpfung, nicht aber von Bekämpfung der Arbeitslosigkeit die Rede ist. In der Folgezeit berufen sie sich immer wieder auf das sozialpolitische Zusatzprotokoll des Vertrages von Maastricht, um den Sozialen Dialog in Europa voranzubringen. Sie sind sich über dessen Notwendigkeit angesichts der zunehmenden Verlagerung von Kompetenzen auf die europäische Ebene klar. Sie wollen nicht nur den Informationsaustausch mit europäischen Partnergewerkschaften intensivieren, sondern auch den Dialog mit den Arbeitgebern und den politischen Entscheidungsträgern in Brüssel.

Insgesamt zeichnet sich seit den 1990er Jahren kaum eine Verstärkung des sozialen Elements im Prozess der europäischen Einigung ab. Zwar stimmt Mitte Januar 1995 das Europäische Parlament dem Weißbuch der Kommission über die „Europäische Sozialpolitik” zu, in dem den Mitgliedsländern zur Schaffung neuer Arbeitsplätze die Flexibilisierung der Arbeitszeit, die Senkung der Lohnnebenkosten, die Verbesserung der Aus- und Fortbildung und die Chancengleichheit von Frauen und Männerm empfohlen wird. Und in der Mitbestimmungsfrage zeigen sich ab Mitte der 1990er Jahre mehrere Initiativen, mit denen der Rahmen einer europäischen Regelung in Betrieb und Unternehmen abgesteckt wird. Doch Europa entwickelt sich in den 1990er Jahren weitgehend zu einer Deregulierungs-Gemeinschaft. Die nationale Regulierungskompetenz ist weitgehend an die EU abgetreten und die gibt marktwirtschaftlichen Konzepten den Vorrang. Die Gewerkschaften sind auf dieser Ebene nur schwach vertreten. Mit Monika Wulf-Mathies, bis zu ihrem Amtsantritt in Brüssel ÖTV-Vorsitzende, stellen sie zwar jahrelang eine EU-Kommissarin. Doch arbeitsmarkt- und sozialpolitische Impulse in dem von den deutschen Gewerkschaften erhofften Sinne vermag auch sie nur in begrenztem Ausmaß zu geben.

Dazu: Zeitzeugen-Interview mit Monika Wulf-Mathies 

Zwar werden seit der Jahrtausendwende mehrere Programme zur Gestaltung der Arbeitswelt, z.B. zur Telearbeit (2002), zu arbeitsbedingtem Stress (2004) und zu Belästigung und Gewalt am Arbeitsplatz (2007), verabschiedet. Und auf der Basis einer Richtlinie aus dem Jahr 2009 wird das Recht der Europäischen Betriebsräte mit dem Gesetz über Europäische Betriebsräte, das am 18. Juni 2011 in Kraft tritt, novelliert. Parallel dazu wird das Recht der Europäischen Aktiengesellschaft (Societas Europaea: SE) entwickelt, wobei die Mitwirkungsrechte der Arbeitnehmer*innen im Dezember 2004 mit einem eigenen Gesetz über die Beteiligung der Arbeitnehmer*innen in einer Europäischen Gesellschaft festgeschrieben werden. Damit werden für die Unternehmens-Ebene Mitbestimmungsregeln entworfen, die einen Rahmen für nationalstaatliche Gesetze bieten, deren Ausformung indessen hinter dem deutschen Mitbestimmungsstandard zurückbleiben kann.

Mit den Krisen nach der Jahrtausendwende zeichnet sich ein Umdenken in der europäischen Politik ab: Beginnend mit der weltweiten Finanzkrise 2008 und den Kreditproblemen vor allem südeuropäischer Staaten 2009/10, dann mit der Flüchtlingskrise 2015 und der Corona-Krise 2020ff. und schließlich mit der Herausforderung durch den Klimawandel und den Krieg in der Ukraine werden regulierende Eingriffe in Wirtschaftsentwicklung und Finanzsystem notwendig. Die deutschen und europäischen Gewerkschaften drängen darauf, dass diese Maßnahmen durch soziale Hilfen flankiert werden. Hinzu kommen die eher „traditionellen“ Forderungen: Deren Palette reicht von der Verkürzung der Arbeitszeit über die Mitsprache bei technologischen Änderungen bis hin zur Planung der Industrie- und Strukturpolitik speziell durch öffentliche Investitionen auf den Gebieten der Energieeinsparung, des Umweltschutzes und der wissenschaftlichen Forschung. Auch die Hilfe für Entwicklungsländer, vor allem durch den Ausbau der Handels- und Wirtschaftsbeziehungen, gehört zu den Forderungen des EGB. Auf mehreren Mai-Kundgebungen wird die Europa-Politik als zentrales Thema angesprochen, so im Jahre 2014 mit dem Slogan „Gute Arbeit. Soziales Europa“ und 2019 „Europa. Jetzt aber richtig!“.

Inzwischen hat die Forderung nach einer klimaneutralen Form des Wirtschaftens auch die europäische Politik erreicht. Die Antwort ist der „Green Deal“. Danach will die EU bis 2030 die EU-weiten Treibhausgas-Emissionen um 30 % gegenüber 2020 verringern. Bis 2050 soll Klimaneutralität erreicht werden. Die deutschen Gewerkschaften unterstützen diese Zielsetzung. Sie machen aber bereits 2021 deutlich: Es geht nicht nur um Ziele, sondern auch um den Weg der Umsetzung. Die Transformation zur klimaneutralen Wirtschaft müsse durch soziale Maßnahmen von der Mitbestimmung bis zu finanziellen Hilfen für die Betroffenen abgesichert werden. Ein Social Deal ist nach Ansicht der Gewerkschaften Voraussetzung für den Green Deal. Und 2023 äußern sie die Befürchtung, dass die im Rahmen des Green Deals geplanten Maßnahmen zu einer Abwanderung von Industrieunternehmen aus Europa führen könnten.

Angesichts der gegenwärtigen Herausforderungen konzentriert sich die europäische Gewerkschaftspolitik auf gegenseitige Information und auf gemeinsame programmatische Erklärungen und Initiativen zu Fragen der sozialen Entwicklung in Europa, der Menschenrechte, speziell der Rechte zur Gewerkschaftsarbeit und der Rechte von Frauen, ebenso wie zu den Folgen der Unterentwicklung und des Klimawandels. Konkret geht es um die Entwicklung eines europäischen Tarifvertrags- und auch Mitbestimmungssystems und um eine stärkere Demokratisierung bzw. Parlamentarisierung der EU, z.B. durch gesamteuropäische Parteiprogramme und vor allem transnationale Kandidatinnen- bzw. Kandidatenlisten mit Blick auf die Europawahlen 2024. Und schließlich soll ein tarifpolitischer Koordinierungsprozess zwischen den europäischen Gewerkschaften ins Leben gerufen werden.

Europawahl 2024: Forderungen des DGB und seiner Mitgliedsgewerkschaften an die Parteien

Siehe auch Thema „Internationale Gewerkschaftspolitik

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