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17. Juni 1953: Sturm auf das FDGB-Haus in Jena

Das Programm des FDGB: Feuer und Flamme für den Sozialismus

Mit der programmatischen Festlegung auf dem 3. FDGB-Kongress 1950 ist der Weg der nächsten Jahre vorgezeichnet. Der FDGB unterstützt vorbehaltslos den Fünfjahresplan (1951-1955) der SED-Regierung. Und er will die „werktätigen Menschen in den volkseigenen und ihnen gleichgestellten Betrieben befähigen, die Aufgaben dieses Planes zu meistern.“ Diesem Ziel dienen vom FDGB angeleitete „Produktionsberatungen“ in den Betrieben und die Aktivistenbewegung um „Bestleistungen“ zu erreichen.

Traditionelle Tarifarbeit findet nicht statt: Die zwischen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbänden ausgehandelten Tarifverträge werden ersetzt durch Betriebsverträge, ab 1951 durch Betriebskollektivverträge (BKV), in denen Belegschaft und Betriebsleitung sich auf gemeinsame Ziele verständigen. Diese von Betriebsgewerkschaftsleitung und Betriebsleitung vereinbarten Verträge bedürfen der Zustimmung der Belegschaft.

Nicht in allen Betrieben finden diese Verträge die Billigung der Werktätigen. Das vorrangige Ziel der Leistungssteigerung ist allzu deutlich erkennbar. Die SED-Führung macht den FDGB dafür verantwortlich, dass sich die Kollektivverträge zu langsam durchsetzen lassen. Schuld sei die mangelhafte ideologische Arbeit der Gewerkschaftsleitungen. Sie verstünden es nicht, die grundsätzliche Bedeutung des Kollektivvertrages, des Leistungslohns und der Arbeitsdisziplin zu erklären.

Allerdings ist wohl auch einer Reihe von SED-Funktionären klar, dass der FDGB mit seiner Einordnung in das System der DDR die Loyalität der Arbeiterinnen und Arbeiter auf Dauer nicht sichern kann. Es wird anerkannt, dass es auch im Sozialismus zu Interessenkonflikten zwischen Arbeiterschaft einerseits und volkseigener Wirtschaft und damit dem Staat andererseits kommen kann. Selbstkritisch wird angemerkt, die SED-Führung habe den FDGB im Kampf um die Durchsetzung der Betriebskollektivverträge nur ungenügend unterstützt. Das „Neue Deutschland“ mahnt am 19. Oktober 1951 sogar den FDGB, die „Initiative der Massen“ besser zu berücksichtigen und nicht nur zu kommandieren oder die alten Formeln herunterzuleiern.

Um den FDGB nicht erneut in eine Auseinandersetzung mit den Betriebsbelegschaften zu hetzen, werden die Lohn- und Arbeitsbedingungen in den Kollektivverträgen 1952 weitgehend durch Gesetze festgelegt, so dass der FDGB aus der Schusslinie genommen wird. Außerdem wird der Anteil der SED-Mitglieder in den Führungsgremien des FDGB reduziert.

Doch mit den Beschlüssen der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952 wird der wirtschaftspolitische Kurs derart verschärft, dass auch das Image des FDGB in Mitleidenschaft gezogen wird. Das liegt auch daran, dass der Vorsitzende des FDGB, Herbert Warnke auf dieser Parteikonferenz verspricht, sich dafür einzusetzen, „die gesamte Arbeiterschaft zu einer Armee der Partei zu machen“. 

Volksaufstand im Juni 1953

Höhere Arbeitsnormen und eine verschlechterte Versorgungslage trüben die Stimmung weiter Kreise der Bevölkerung ein. Das signalisieren auch die steigenden Flüchtlingszahlen: Fast eine halbe Million DDR-Bürgerinnen und -Bürger gehen im ersten Halbjahr 1953 in den Westen.

Im Mai 1953 beschließt die DDR-Führung eine Erhöhung der Arbeitsnormen um 10 Prozent. Das führt zu ersten Unruhen und vereinzelten Streiks. Rückschauend urteilt Herbert Warnke selbstkritisch über die Rolle des FDGB in dieser Konfliktsituation: Nach seiner Ansicht versuchten „viele Gewerkschaftsleitungen und Funktionäre die Losung ‚Mehr produzieren – besser leben‘ nur in ihrem ersten Teil zu verwirklichen. […] Der Arbeitsschutz erschien in unseren Reden und Entscheidungen nicht in erster Linie als Mittel zur Erhaltung der Gesundheit und des Lebens der Werktätigen, sondern vor allem als eine ‚entscheidende Voraussetzung zur Steigerung der Arbeitsproduktivität und Einsparung von Kosten für die Sozialversicherung‘. Wenn vom Sport gesprochen wurde, dann ausschließlich von dem Gesichtspunkt, daß durch den Sport die Arbeitsfähigkeit der Werktätigen erhalten und gesteigert werde.“ Derartige Beispiele ließen sich, so das Eingeständnis Warnkes, „beliebig vermehren, und zwar für alle Gebiete der Gewerkschaftsarbeit.“

In der Tat kommt dem FDGB eine wichtige Rolle für die weitere Entwicklung zu. Obwohl das SED-Politbüro mit Rücksicht auf die Stimmung in der Bevölkerung in einer Erklärung vom 9. Juni 1953 von den Frühjahrsbeschlüssen abrückt, hält der FDGB an der Normerhöhung fest. In der FDGB-Zeitung „Tribüne“ vom 16. Juni werden die Normbeschlüsse als „in vollem Umfang richtig“ bezeichnet.

Dieser Artikel wirkt wie ein Signal: Nachdem ein Mitglied der Betriebsgewerkschaftsleitung diesen Artikel den Bauarbeitern an der Berliner Stalinallee vorgelesen hat, formiert sich spontan ein Protestzug zum Ministerrat. Tausende Bürgerinnen und Bürger schließen sich der Demonstration an. Umgehend wird die Rücknahme der Normerhöhung ankündigt, dennoch weiten sich die Proteste in Ost-Berlin und anderen Orten der DDR aus. Der Protest gegen die Normerhöhung wird binnen kürzester Zeit zu einer Bewegung gegen die Führung der DDR, für freie Wahlen und für die deutsche Einheit.

Der FDGB-Bundesvorstand ruft die Gewerkschafter noch am selben Tag dazu auf, den sozialistischen Staat gegen alle „konterrevolutionären Angriffe“ zu verteidigen. Drahtzieher des Aufstandes seien „die gleichen Kräfte, die Deutschland schon zweimal ins Unglück gestürzt haben und die es jetzt ein drittes Mal versuchen.“

Am 17. Juni 1953 wird der Aufstand mit der Hilfe sowjetischer Truppen blutig niedergeschlagen. Nach offiziellen Angaben kommen dabei 20 Menschen ums Leben, wirklich sind es wohl mehrere Hundert. Die „Rädelsführer“ des Aufstandes werden streng bestraft: Mindestens 22 Personen werden zum Tode, 1.400 zu Zuchthausstrafen verurteilt.

Nach der Niederschlagung des Aufstandes hält der FDGB-Vorstand an seiner bisherigen Linie fest. Die FDGB-Tagung im August 1953 bekräftigt das Bekenntnis zur SED als der Partei der Arbeiterklasse und zur DDR. Auch künftig würden die Gewerkschaften den Staat den sie mitgeschaffen haben, gegen jeden Anschlag schützen und verteidigen.

Anders als es die offiziellen Erklärungen proklamieren, ist der FDGB durch die Ereignisse vom Juni 1953 schwer getroffen: Einerseits haben sich Teile der Mitgliedschaft und auch der unteren Funktionärsschicht der Protestbewegung angeschlossen. Andererseits war am 17. Juni auch der FDGB, d.h. die Spitze, Adressat der Proteste: Häuser, Ferienheime und Schulen des FDGB sind gestürmt worden.

Um die Stimmung in der Bevölkerung zu stabilisieren, werden in den folgenden Monaten Lohn- und Rentenerhöhungen und ein Wohnungsbauprogramm verkündet. Dass dabei die Rolle des FDGB als Vorkämpfer der sozialen Interessen der Arbeitnehmer herausgestellt wird, dient wohl vor allem dazu, das Image des FDGB aufzubessern.

In den 1950er Jahren entwickelt sich der FDGB zu einem wichtigen sozialpolitischen Akteur, der mit seiner eigenen Organisation zahlreiche Aufgaben des alltäglichen Lebens übernimmt. Eine unabhängige und aktive Politik zur Vertretung der Interessen der Arbeitnehmer ist damit jedoch nicht verbunden.

Im Vordergrund der FDGB-Arbeit stehen allgemeine sozialpolitische Aufgaben und damit im Grunde der ganze Bereich der Gesellschaftspolitik. Das ist zum einen die soziale Absicherung gegen die finanziellen Folgen von Krankheit, Unfall und Alter: Die Sozialversicherung wird seit 1956 vom FDGB verwaltet. Mitte der 1950er Jahre sind allein rund 200.000 Funktionäre ehrenamtlich für die Sozialversicherung tätig. Hinzu kommen Arbeitsschutz und gesundheitliche Vorsorge, die Betreuung von Kindern und Jugendlichen, die Kulturarbeit und der Feriendienst sowie teilweise auch die Wohnungsversorgung.

Ein gut Teil dieser Aktivitäten konzentriert sich auf den Betrieb, in dem der FDGB mit seinen Ausschüssen und Gruppen allgegenwärtig ist und zusammen mit anderen Verbänden wie der „Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“, der Volkssolidarität, dem Kulturbund, der FDJ, dem Demokratischen Frauenbund Deutschlands und dem Deutschen Turn- und Sportbund für die politische Durchorganisierung der Bevölkerung sorgt. Dabei kümmern sich Hunderttausende von FDGB-Aktivisten und -Aktivistinnen um den Ausbau von Kantine, Kindergarten, Wäscherei, Betriebsverkaufsstellen, Sportanlagen und Poliklinik ebenso wie um die Kulturarbeit – von der Weiterbildung über die politische Schulung bis hin zum gemeinsamen Theaterbesuch und zu Großveranstaltungen mit populärer Musik. Der seit 1947 bestehende Feriendienst, der sich in der Arbeiterschaft großer Beliebtheit erfreut, wird ausgebaut. Die Preise für Ferienreisen werden gesenkt, und die Zahl der Reisen wird 1954 auf über 600.000 erhöht. In den folgenden Jahren wird das Netz von Ferienheimen erweitert. Die Zahl der Ferienreisen steigt zwischen 1955 und 1958 auf über eine Million Reisen pro Jahr.

Ende 1956 sollen die betrieblichen Mitspracherechte der Belegschaften gestärkt werden. Es werden „Arbeiterkomitees“ angeregt, deren Mitglieder von der Belegschaft in Urwahl gewählt werden sollen. Die Befugnisse der Komitees sollen über die der Betriebsgewerkschaftsleitungen hinausgehen. Zwar sollen Komitees und Gewerkschaften zusammenarbeiten, doch die Betriebsgewerkschaftsleitungen sollen den Komitees Vorschläge und Anregungen unterbreiten, über die diese dann zu entscheiden haben. Da soll es um alle Fragen der Unternehmenspolitik gehen – vom Betriebsplan über Investitionen und Kreditaufnahme bis hin zu Normen, Lohngruppen und Gewinnverteilung.

Das geht nicht ohne Kritik an der bisherigen Funktion des FDGB ab. So heißt es im Dezember 1956 in der SED-Zeitschrift „Einheit“, „daß wir in den Betrieben noch nicht jene Formen der Einflußnahme der Arbeiterklasse entwickelt haben, die ihrer Rolle in unserer Gesellschaft entsprechen und die den Arbeitern ihre neue Stellung im Betrieb unmittelbar durch die eigene Erfahrung bewußt werden lassen.“ Bisher gebe es, so wird von Eva Altmann in der „Einheit“ vom Dezember 1956 vermerkt, „kein wirkliches Entscheidungsrecht der Arbeiter und Angestellten und der Ingenieure über das Geschehen im Betrieb und seine Entwicklung.“ Nach diesen Vorstellungen sollen sich die Arbeiter „als Eigentümer, als Herren unserer sozialistischen Betriebe“ verhalten. „Der große Prozeß der Demokratisierung unseres gesellschaftlichen Lebens darf an dieser Frage nicht vorbeigehen.“

Die Realität sieht anders aus. Nur einige Pilotkomitees werden geschaffen. Und deren Arbeit verläuft 1957 im Sande. Stattdessen werden die Befugnisse des FDGB neu formuliert. Dem FDGB wird die Aufgabe der „Ständigen Produktionsberatung“ übertragen. Doch Ziel der seit 1959 alle sechs bis acht Wochen zusammentretenden Ausschüsse ist und bleibt die Erhöhung der Leistung.

Die kulturelle Massenarbeit ist eine der zentralen gewerkschaftlichen Aufgaben. Damit soll eine eigene Arbeiterkultur geschaffen werden. Als wichtiger Schritt zu diesem programmatischen Ziel gilt die Autorenkonferenz, die im April 1959 im Elektrochemischen Kombinat in Bitterfeld stattfindet. In Anknüpfung an eine lange Tradition innerhalb der sozialistischen Arbeiterbewegung, zielt der Bitterfelder Weg auf die Entwicklung einer Literatur der Arbeitswelt, die von Schriftstellern, aber auch und vor allem von den Arbeitern selbst verfasst werden soll, um damit einen „neuen Menschen“ zu schaffen. Außerdem werden ab 1959 alljährlich Arbeiterfestspiele abgehalten. Neben dem Betrieb haben auch die vielfach gewerkschaftlich geleiteten oder unterstützten Kulturhäuser einen hohen Stellenwert in der Kulturarbeit.

Der FDGB beschreibt die DDR als Hort des Friedens in einer vom aggressiven Imperialismus des Westens bedrohten Welt. Für den FDGB ist es selbstverständlich, dass er die Außenpolitik der DDR unterstützt: Ob den Staatsvertrag mit der Sowjetunion 1955 oder die Einbindung in den Warschauer Pakt – immer tritt der FDGB der Regierung der DDR zur Seite. Außerdem wirbt er für den Dienst in der Kasernierten Volkspolizei, die 1952 als Vorläufer der Nationalen Volksarmee (NVA) gebildet wird. In immer neuen Bedrohungsszenarien wird die Gefahr eines Angriffs der „imperialistischen USA“ und der „revanchistischen Bundesrepublik“ beschworen, die nur mit „unermüdlicher Wachsamkeit“ und „entschiedener Verteidigungsbereitschaft“ abgewehrt werden könne.

Dann, nach der Gründung der NVA, verspricht die FDGB-Führung, in der Arbeiterschaft, in den Gewerkschaftsgruppen und Arbeitskollektiven, über Notwendigkeit und Charakter der NVA aufzuklären, um damit der Bildung einer bewaffneten Macht gesellschaftlichen Rückhalt zu verschaffen. Außerdem unterstützt der FDGB die Arbeit der uniformierten Betriebskampfgruppen. Zur Selbststilisierung einer Friedens- und Freiheitsmacht gehört im übrigen die propagandistische Begleitung von nationalen Befreiungsbewegungen in den Kolonialstaaten.

Doch stärker als zu Beginn der 1950er Jahre setzt der FDGB nun darauf, dass für die Steigerung der Leistung auch materielle Anreize geschaffen werden sollen. Zentral aber bleibt der Erziehungsauftrag des FDGB, den die am 10. Juli 1958 von Walter Ulbricht verkündeten „10 Gebote der sozialistischen Moral“ vorgeben. Da heißt es z.B. im 7. Gebot: „Du sollst nach Verbesserung Deiner Leistung streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen.“ Der FDGB unterstützt diese Vorgaben mit eigenen organisationspolitischen Beschlüssen: 1959 gründet er die Bewegung „sozialistisch arbeiten, lernen und leben“. Die im Rahmen dieser Bewegung gebildeten „Brigaden der sozialistischen Arbeit“ sollen durch „sozialistische Erziehung im Kollektiv“ jeden „kleinbürgerlichen Individualismus“ überwinden.

Über die allgegenwärtige Propaganda mit ihren Leistungsaufrufen und Beschönigungen der DDR-Realität sei nicht vergessen, dass Tausende von ehrenamtlichen und hauptberuflichen FDGB-Funktionären versuchen unter schwierigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen, einen Beitrag zur Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung zu leisten. Auch ist schwer auszumachen, ob nicht die Leistungspropaganda, z.B. die Aktivistenbewegung, durchaus von breiten Kreisen der Arbeiterschaft im Grundsatz unterstützt wird – in der Erwartung, auch an den Früchten der Produktionssteigerung beteiligt zu werden. 

Ende der 1950er Jahre ist der FDGB im Alltag der DDR-Bürgerinnen und -Bürger fest verwurzelt. Ob im Arbeitsleben oder in der Freizeit, ob bei der Wohnraumversorgung oder in Versicherungsfragen – stets ist der FDGB ein wichtiger Ansprechpartner. Damit ist er nicht nur ein sozialpolitisches Aushängeschild des DDR-Staates. Vielmehr trägt er mit seinen Maßnahmen dazu bei, dass die Härten des Alltags erträglicher werden. Ist er also auch nicht als konsequente Interessenvertretung der Arbeitnehmer tätig, so doch wichtiger Teil des Betreuungsapparats. Nicht als „traditionelle“ Gewerkschaft, wohl aber als Quasi-Behörde eines sich fürsorglich gebenden Staates ist der FDGB weitgehend akzeptierter Teil des Alltagslebens. Mit seiner Doppelrolle als Verteiler sozialer Leistungen und als Erziehungsinstitution zugunsten hoher Produktion ist er Teil des alltäglichen Lebens der DDR-Bevölkerung. Damit wird er aber auch in Haftung genommen für all die Schwächen, die das DDR-System kennzeichnen: den deutlich niedrigeren Lebensstandard als in Westdeutschland; die alltägliche Propaganda, mit ihren Beschönigungen und Leistungsaufrufen; die Kontrolle des Alltagsverhaltens mit allen Konsequenzen für diejenigen, die als „Feinde des Sozialismus“ gebrandmarkt werden.

Die DDR-Politik gerät Mitte der 1950er Jahre unter zweifachen Druck: Da ist auf der einen Seite die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland mit dem raschen Wirtschaftsaufstieg und der deutlichen Verbesserung der Lebensverhältnisse. Viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger vergleichen die eigene Situation mit der ihrer Landsleute im Westen und sind unzufrieden mit der eigenen Situation. Und da ist auf der anderen Seite die Entwicklung in den östlichen Nachbarländern: Die Protest- und Aufstandsbewegung in Polen und vor allem in Ungarn zeigt, auch wenn sie 1956 mit Hilfe der Roten Armee blutig niedergeschlagen wird, wie brüchig die kommunistische Herrschaft ist. Viele DDR-Bürgerinnen und -Bürger ziehen für sich die Konsequenzen und gehen in den Westen.

Am 12. April 1961 wird ein neues Gesetzbuch der Arbeit verabschiedet. Darin werden alle wesentlichen Bestimmungen zu arbeitsrechtlichen Fragen, zum Arbeits- und Gesundheitsschutz und zur Sozialversicherung zusammengeführt. Jedem Arbeiter und Angestellten wird das Recht auf Arbeit und auf Entlohnung nach Quantität und Qualität der geleisteten Arbeit zugesprochen. Außerdem wird der Einbau der Gewerkschaften in das System der Planausarbeitung und -festsetzung geregelt.

Auf Vorbehalte und Kritik in der Arbeitnehmerschaft stößt aber, dass alle Verordnungen dem Ziel, die Arbeitsproduktivität zu steigern, untergeordnet werden. Der Arbeitsplatzwechsel wird erschwert, um die Arbeitskräftefluktuation einzudämmen, die Bestimmungen über die Einhaltung der Normen werden verschärft und die Zahl der Haushaltstage und die Zahlung von Sonn- und Feiertagszuschlägen begrenzt. Insgesamt soll das Gesetzbuch der Arbeit helfen, „die sozialistische Arbeitsdisziplin und Arbeitsmoral weiterzuentwickeln“ und damit „die Erziehung und Selbsterziehung der Werktätigen zu neuen, sozialistischen Menschen“ fördern.

Der alltäglichen Bevormundung und Drangsalierung sowie den – im Vergleich zum „Westen“ – unzureichenden Konsummöglichkeiten entziehen sich viele Menschen durch Flucht.

Als sich die Fluchtbewegung aus der DDR Anfang der 1960er Jahre deutlich verstärkt, schottet die DDR-Führung das Land ab: Am 13. August 1961 wird in Berlin die Grenze des sowjetischen Sektors mit einer Mauer abgeriegelt. Bald umzäunt eine befestigte Grenzanlage die gesamte DDR. Der FDGB-Bundesvorstand erklärt dazu am Morgen des 13. August: „Die Gewerkschaften betrachten diese Maßnahmen als weiteren wirksamen Schritt zur Sicherung des Friedens in Deutschland und zur Bändigung des westdeutschen Militarismus durch die Festigung der Deutschen Demokratischen Republik.“ Und er fordert alle Werktätigen zu hoher Wachsamkeit auf, um jedem Anschlag des Klassenfeindes mit harter Arbeiterfaust zu begegnen: „Die Arbeiter- und Bauern-Macht und ihre Regierung können sich auf die Gewerkschafter der Deutschen Demokratischen Republik verlassen. Nach Arbeiterart werden sie noch entschlossener und wirksamer die Sache des Friedens und des Sozialismus verteidigen.“

In den folgenden Tagen und Wochen werben Tausende von Funktionären des FDGB in Diskussionen „vor Ort“ für diese Politik. Herbert Warnke gibt am 16. August 1961 auf einer Gewerkschaftsversammlung die Argumentationslinie vor, die über die „Tribüne“ verbreitet wird: „Wir werden weiter als Klasse so gründlich arbeiten, wie wir es als Arbeiter, als gute Facharbeiter, gewöhnt sind. Besonders die Arbeiterklasse, aber auch die ganze friedliebende Bevölkerung, begrüßt diese Maßnahmen“ – gemeint ist der Mauerbau. „Das beweisen die Zehntausenden Stellungnahmen, die der Partei, der Regierung und dem FDGB zugegangen sind. Das zeigen die Stellungnahmen, die uns von zahlreichen Gewerkschaftsgruppen und Brigaden des Kombinats Schwarze Pumpe vorliegen. Alle diese Kollegen haben recht: In dieser Situation kann man nicht schwanken, muß man Farbe bekennen, muß man wissen, zu wem man gehört. Entweder man gehört zur Arbeiterklasse, kämpft für ihre Ziele, für Frieden und Sozialismus, und steht zu ihrer Arbeiter- und Bauern-Macht oder man wechselt über zum Klassengegner. Jede Schwankung nützt den Monopolherren und Ausbeutern. Es kann kein Hin und Her, kein im Sozialismus leben und im Kapitalismus arbeiten, wie bei den Grenzgängern, geben. Die Fronten sind klar und eindeutig. Die Klassenfront der Arbeiter steht der Klassenfront der Militaristen gegenüber.“

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