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Soziale Lage : Wachsende soziale Spaltung
Die mannigfachen Krisen führen zu weitreichenden Veränderungen in allen Lebensbereichen. Soziale Verwerfungen sind die Folge.
Die trotz aller Belastungen zunächst recht positive wirtschaftliche Entwicklung sorgt für einen stabilen Arbeitsmarkt. Die Arbeitslosenquote sinkt von 7,1 % (2013) auf 5,5 % (2019). Während der Corona-Krise steigt sie zunächst auf 6,5 % (2020). Dann geht sie rasch wieder zurück auf 5,8 % (2022). Auch die Ankunft einer großen Anzahl von Flüchtlingen aus der Ukraine im Jahr 2022 und die zunehmende Zuwanderung von Flüchtlingen 2023 sowie die Eintrübung der wirtschaftlichen Konjunktur 2023 führen nicht zu einem dramatischen Anstieg der Arbeitslosenquote.
Verursacht durch die Corona-Krise, kommt es zu tiefgreifenden Veränderungen in der Arbeitswelt: Viele Arbeitskräfte der von Corona-Maßnahmen schwer getroffenen Branchen wandern in andere Bereiche ab und kehren nach dem Auslaufen der Einschränkungen nicht wieder zurück. Auch das verschärft den allenthalben spürbaren Fachkräftemangel. Außerdem verändert sich der Arbeitsalltag: Während der Corona-Pandemie wird auf breiter Front das Arbeiten im Home-Office eingeführt; das wird vielfach auch nach dem Ende der Pandemie beibehalten. Soziale Zusammenhänge in den Betrieben werden dadurch gelockert.
Auch der Alltag verändert sich durch die Corona-Maßnahmen: Die Kontaktbeschränkungen machen vielen Menschen zu schaffen: Besonders Kinder und Jugendliche sowie Ältere und Pflegebedürftige leiden darunter. Das erzwungene enge Zusammenleben in der Wohnung führt zur Verschärfung innerfamiliärer Konflikte bis hin zum Ansteigen häuslicher Gewalt. Und die Kindergarten-, Schul- und Universitätsschließungen verursachen – trotz der Umstellung auf digitale Lehrformen – Lerndefizite. Außerdem haben Bewegungsmangel und Kontaktarmut schwerwiegende Folgen für die psycho-soziale Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
Die Lage auf dem Wohnungsmarkt verschlechtert sich dramatisch. In jedem Jahr fallen zehntausende Wohnungen aus dem Bereich des sozialen Wohnungsbaus. Neue Wohnungen werden in zu geringer Anzahl gebaut. Die Baukosten steigen durch Energiesparauflagen, Anstieg der Preise von Baumaterialien und Zinserhöhungen. Und die Zahl der Wohnungssuchenden wächst an. Wohnraum ist knapp, die Mieten steigen deutlich.
Die Einkommensentwicklung ist zunächst zufriedenstellend. Doch seit der Corona-Krise stagniert die Lohnhöhe. Besonders bedrückend ist die Situation in allen Pflegeberufen. Die Angestellten in Krankenhäusern und Pflegeheimen werden mit Lob und Respekt bedacht. Doch Verbesserungen der Arbeitsbedingungen und Höhergruppierungen bleiben deutlich hinter den Erwartungen zurück.
Im Zuge der durch den Ukraine-Krieg ausgelösten Wirtschaftsprobleme erfolgt ein starker Inflationsschub: Die Preise steigen 2022 um durchschnittlich 8 %, wobei Lebensmittel über 20 % teurer werden. Auch gestiegene Mieten und die anwachsenden Kosten für Energie belasten die Haushalte. Mietkostenzuschüsse und Sonderzahlungen zur Abfederung der gestiegenen Energiepreise können die Folgen der Preissteigerungen für die Haushalte nicht voll ausgleichen. Und auch die in der Lohnrunde 2022/23 erkämpften Einkommensverbesserungen verhindern nicht, dass die Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen Reallohnverluste erleiden. Erst als die Inflationsquote im Herbst 2023 sinkt, zeigt sich eine Entspannung der Lage. Doch gerade die Lebensmittelpreise bleiben hoch. Und nicht in allen Branchen können deutliche Lohnsteigerungen errungen werden. Unterschiedlich hoch ist nach wie vor das Lohnniveau in „alten“ und „neuen“ Bundesländern.
Bei den Renten wird über 30 Jahre nach der Deutschen Einheit die Gleichstellung der Rentenwerte erreicht. Zum letzten Mal werden zum 1. Juli 2023 die Renten in den „alten“ (um 4,39 %) und in den „neuen“ Bundesländern (um 5,86 %) unterschiedlich stark angehoben. Doch die Rentensteigerung wird durch die Erhöhung der Sozialbeiträge gemindert und gleicht die Einkommensverluste durch die Inflation nicht aus.
Die Zahl der in prekären Verhältnissen Beschäftigten wächst weiter an. Der Niedriglohnsektor wird immer größer. Und die Zahl der Armen steigt an. Vor allem betroffen sind Geringverdiener, kinderreiche Familien und Alleinerziehende, vielfach auch Rentner und Rentnerinnen sowie Zugewanderte. Die Regelsätze von Hartz IV bzw. ab 2023 des Bürgergeldes reichen nur für das Nötigste. Doch sie erlauben kaum eine befriedigende Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Auch die Einführung der Kindergrundsicherung 2023 verbessert die Lage von armen bzw. armutsgefährdeten Kindern nicht durchgreifend. Die „Tafeln“, die Menschen mit sehr niedrigem Einkommen mit Lebensmitteln versorgen, haben enormen Zulauf, auch durch den Anstieg der Zuwanderungszahlen.
Die Zugewanderten brauchen Sprach- und Integrationskurse, Wohnung, Gesundheitsversorgung, Unterhalt bzw. Arbeit sowie Betreuung und Ausbildung der Kinder. Das alles kann nicht so schnell bereitgestellt werden wie eigentlich erwünscht. Viele leben unter Bedingungen, die eine Integration in die deutsche Gesellschaft erschweren. Zahlreiche Kommunen stoßen an Grenzen der Aufnahmefähigkeit. Konflikte um Wohnraum und Sozialleistungen werden von einigen politischen Gruppierungen und Parteien – von Pegida bis AfD – angeheizt.
Trotz aller Bemühungen, ein weiteres Auseinanderdriften zwischen „oben“ und „unten“ durch sozialpolitische Maßnahmen zu verhindern, mehren sich die Anzeichen einer fortschreitenden sozialen und damit auch politischen Polarisierung. Die innenpolitischen Konflikte und die Häufung internationaler Auseinandersetzungen, die sich 2022/23 in unmittelbarer Nähe Europas zu Kriegen entwickeln, lassen in weiten Kreisen der Bevölkerung ein Klima von Bedrohung und Unsicherheit entstehen, in dem populistische Parolen gedeihen.