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Auf der Regierungsbank: Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) und Vizekanzler und Wirtschaftsminister Robert Habeck (Bündnis 90/Die Grünen)

Politik: Krisenmanagement auf Dauer?

Der Anstieg der Flüchtlingszahlen seit 2015, die Corona-Pandemie 2020 bis 2022, der Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 und der Hamas-Angriff auf Israel im Oktober 2023 sowie die Klima-Krise stellen die deutsche Politik vor große Herausforderungen. Konflikte sind unvermeidlich. Das führt zu einer Veränderung der politischen Landschaft.

Die letzten Jahre der Großen Koalition: Große Herausforderungen – kleine Schritte

Die nach den Bundestagswahlen 2013 gebildete und 2017 – nach gescheiterten Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und FDP – fortgeführte schwarz-rote Regierung unter Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) setzt auf sozial- und wirtschaftspolitischem Gebiet die Politik nach der Deutschen Einheit fort. Doch die Probleme häufen sich.

Das Thema „Einwanderung“ behält nach dem sprunghaften Anstieg der Flüchtlingszahlen im Sommer 2015 seinen hohen Stellenwert. Die Bemühungen der Bundesregierung, die unkontrollierte Zuwanderung zu begrenzen und eine faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa zu verabreden, haben wenig Erfolg.

Immer drängender stellt sich die Frage des Klimaschutzes. Zwar bekennt sich die Bundesregierung zum Ziel, die Erderwärmung auf 1,5 Grad zu begrenzen. Sie unterstützt internationale Absprachen zur Eindämmung des Klimawandels. Doch entscheidende Schritte auf dem Weg zur Erreichung dieser Ziele bleiben aus.

Überlagert werden diese politischen Herausforderungen durch die Corona-Krise, die Anfang 2020 Deutschland erreicht. Mehrmals werden umfassende Ausgangs- und Kontaktbeschränkungen angeordnet. Die Eingriffe in den Alltag haben weitreichende wirtschaftliche und auch psycho-soziale Folgen. Außerdem legt die Corona-Krise Schwächen des Gesundheitssystems und der deutschen Kommunikationsstruktur offen. Vor allem der niedrige Grad an Digitalisierung wird deutlich.

Außenpolitisch beginnt Ende der 2010er Jahre ein Überdenken der bisherigen – optimistischen – Einschätzungen der Weltlage. Die Annexion der Krim (2014) signalisiert eine zunehmend aggressive Politik Russlands. Der wachsende Einfluss Chinas nährt Befürchtungen einer zu großen Abhängigkeit. Diese Abhängigkeit wird in der Corona-Krise gerade bei Arzneimitteln und Medizinprodukten spürbar. Warnungen, sich im Hinblick auf die Lieferung von Gas und Öl zu stark auf Russland zu verlassen, werden zunächst nicht ernst genommen. Und auch die Forderung von US-Präsident Donald Trump, die Staaten der Europäischen Union müssten mehr Geld für ihre eigene Sicherheit aufwenden, trifft in einigen Staaten Europas, auch in Deutschland, auf Zurückhaltung oder Ablehnung.

Seit Winter 2021/22: „Ampelkoalition“ im Dauerstress

Nach den Bundestagswahlen vom 26. September 2021 wird unter Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erstmals im Bund eine Regierung aus SPD, Bündnis 90/Die Grünen und FDP gebildet. Sie tritt als „Fortschrittskoalition“ an und nimmt sich eine Reihe von Aufgaben vor: Bewältigung der Folgen der Corona-Pandemie, Begrenzung des Klimawandels, Beschleunigung der Digitalisierung, Reform des Gesundheitswesens, Stabilisierung der Sozialsysteme, Anschub des sozialen Wohnungsbaus usw.

Doch alle diese Vorhaben werden vom Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 in den Hintergrund gedrängt. Mit seiner „Zeitenwende“-Rede kündigt Olaf Scholz am 27. Februar die Bildung eines „Sondervermögens“ sowie eine kontinuierlich ansteigende Finanzierung der Bundeswehr an. Nach und nach werden in Abstimmung mit europäischen Partnerstaaten sowie den USA und Kanada Sanktionen gegen Russland und die Lieferung von Waffen für die Ukraine beschlossen. Die drohende Energieknappheit in Folge des Endes der russischen Erdgaslieferungen zwingt zur Verlängerung der Laufzeit der noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke, zum Hochfahren der Kohlekraftwerke und zum Ankauf von Erdöl und Fracking-Gas. Alle diese Maßnahmen widersprechen den selbstgesteckten Zielen der gerade ins Amt gekommenen Bundesregierung. Mit Milliardenprojekten sollen die Folgen der gestiegenen Energiekosten und der seit Sommer/Herbst 2022 galoppierenden Inflation für Unternehmen sowie für Verbraucher und Verbraucherinnen abgemildert werden.

Die Aufnahme von über einer Million Flüchtlingen aus der Ukraine stellt die deutsche Infrastruktur vor große Probleme. Die Situation wird durch die seit Winter 2022/23 ansteigende Zahl von Migranten und Migrantinnen insbesondere aus dem Nahen Osten und aus Afrika noch verschärft. Vor allem die Kommunen brauchen zusätzliche finanzielle Mittel, um Unterbringung, Versorgung und Betreuung der Zugewanderten sichern zu können.

Doch bald drängen die Themen nach vorne, deren Bearbeitung die Bundesregierung sich bei Amtsantritt vorgenommen hat. Sie bringt 2023 eine Vielzahl von Reformen auf den Weg: Sozialpolitische Verbesserungen, Umsteuern der Wirtschaft in Richtung auf Klimaneutralität, Beschleunigung der Digitalisierung, Sicherung des Tarifsystems, Öffnung des Landes für Zuwanderung von Fachkräften, Begrenzung bzw. Kontrolle des Zuzugs von Flüchtlingen, Reform des- Pflege- und Gesundheitssystems und Vieles mehr. Nicht wenige Maßnahmen werden erst nach heftigem Streit zwischen den Koalitionspartnern verabschiedet. Erschwert wird die Lage der Regierungskoalition, als das Bundesverfassungsgericht am 15. November 2023 enge Grenzen für die Schuldenaufnahme festlegt. Dadurch werden hohe Kreditaufnahmen für die Klima- und Transformationspolitik blockiert. Am 13. Dezember 2023 legt die Koalition Eckpunkte für ein Konzept zur Schließung der Finanzierungslücke im Bundeshaushalt 2024 vor, durch das die Durchführung der großangelegten Projekte gesichert werden soll.

Viele der 2022/23 auf den Weg gebrachten bzw. erwarteten Maßnahmen bergen Sprengstoff für den Zusammenhalt der Gesellschaft und für die Akzeptanz der Demokratie. Das gesellschaftliche Klima ändert sich: Die innenpolitischen Probleme und die Verschlechterung der Wirtschaftslage, die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten sowie die wachsende Zahl von Unwetterkatastrophen – das alles trägt dazu bei, dass sich ein Gefühl von Überforderung, Verunsicherung und Zukunftsangst ausbreitet.

Die Stimmungslage in der Gesellschaft wird polarisiert: Angefeuert durch die Nutzung der „sozialen Medien“ bilden sich zwei „Lager“ heraus, die ihre Anhänger und Anhängerinnen zu Demonstrationen und Aktionen mobilisieren können: Auf der einen Seite sind das die Befürworter und Befürworterinnen einer offenen und vielfältigen sowie sozial-ökologisch ausgerichteten Gesellschaft. Sie sehen sich am ehesten von Bündnis 90/Die Grünen vertreten. Und auf der anderen Seite formiert sich eine neue „Rechte“. Deren unterschiedliche Gruppierungen sind durch ihren – bis zu Gewalttaten aufgeheizten – Hass auf alles „Fremde“, durch ihre Ablehnung aller Maßnahmen zum klimapolitisch motivierten Umsteuern und durch eine grundsätzliche Ablehnung der bestehenden freiheitlich-demokratischen Ordnung geeint.

Sie sehen zumeist in der AfD ihre parteipolitische Vertretung. Diese gewinnt angesichts der im Sommer/Herbst 2023 alle anderen Themen überlagernden Debatte um die Notwendigkeit einer Begrenzung des Flüchtlingszuzugs deutlich an Zustimmung.

Anfang November 2023 wird die Gründung des „Bündnisses Sahra Wagenknecht“ bekannt gegeben. Das führt zur Spaltung der Linkspartei, deren Bundestagsfraktion durch den Austritt mehrerer Mitglieder den Status einer Fraktion verliert. S. Wagenknecht kündigt die Gründung einer neuen Partei für Januar 2024 an. Diese soll sich für eine stärkere Umverteilung von „oben“ nach „unten“ und für eine Begrenzung des Zuzugs von Flüchtlingen einsetzen.