zurück
Tafel Berlin-Tempelhof: Waren-Ausgabe

In Ost und West: Die Kluft zwischen arm und reich wächst

Blühende Landschaften verspricht Bundeskanzler Helmut Kohl den Menschen im Osten. Doch der wirtschaftliche Aufschwung lässt auf sich warten. Stattdessen erleben viele Menschen den Abstieg in die Arbeitslosigkeit. Die Reallöhne sinken, Sozialleistungen werden gekürzt und die Zahl prekärer Arbeitsplätze nimmt zu. Im Osten wie im Westen.

Die Bundesregierung investiert sehr viel Geld, um die Infrastruktur in den Neuen Bundesländern zu verbessern, die Städte zu sanieren, Unternehmen zu fördern und Umweltschäden zu beseitigen. Rund 300 Milliarden allein in den ersten 10 Jahren. Das entspricht in etwa dem Bundeshaushalt im Jahr 2015. Trotzdem fühlen sich viele Menschen im Osten benachteiligt und ungerecht behandelt. Das mag zum einen daran liegen, dass es Anfang der 1990er Jahre deutliche Differenzen bei den Einkommen gibt: Löhne und Gehälter im Osten erreichen nur etwa 68 Prozent des Westniveaus. Sie steigen zwar in den folgenden Jahren und liegen 1997 nur noch etwa 10 Prozent unter den Einkommen im Westen. Doch bis heute ist diese Lücke nicht geschlossen.

Zu der Enttäuschung über die Einkommensunterschiede kommt die große Verunsicherung, die die neue privatkapitalistisch-marktwirtschaftliche Arbeitswelt mit sich bringt. Viele Ost-Betriebe werden abgewickelt, andere verschlankt, zum ersten Mal in ihrem Leben sind die Menschen im Osten mit Arbeitslosigkeit konfrontiert.

Und die, die noch Arbeit haben, erleben, wie die Menschen im Westen, die Umwälzungen in der Arbeitswelt hautnah: Computergesteuerte Maschinen in der Produktion und vernetzte Arbeitsplätze in der Verwaltung erhöhen die Produktivität und erfordern von den Beschäftigten ein hohes Maß an Flexibilität. Neue Arbeitsformen entwickeln sich: Neben den hoch qualifizierten und gut bezahlten Tätigkeiten im produzierenden Gewerbe und im Dienstleistungsbereich wächst die Zahl der nicht sozialversicherungspflichtigen 630-Mark-Jobs, Leiharbeit, Beschäftigung auf Zeit, „Schein-Selbstständigkeit” und Heimarbeit nehmen zu. Die elektronische Datenverarbeitung macht’s möglich, Arbeiten aus den Betrieben auszulagern und auf Menschen zu übertragen, die weder durch Tarifvertrag noch durch das Arbeitsrecht geschützt sind. Die Folgen dieser Entwicklung: Um die Jahrtausendwende sind rund vier Millionen Menschen arbeitslos und etwa jeder Fünfte hat ein prekäres Arbeitsverhältnis. Als die rot-grüne Bundesregierung im Zuge einer Reform des Arbeitsmarktes auch noch zahlreiche Sozialleistungen kürzt, sind Verunsicherung und Empörung bei vielen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern groß.

Die Arbeitslosigkeit geht in den folgenden Jahren zurück. Nicht zuletzt dank der Reformen, die unter Schröder auf den Weg gebracht wurden. Die Einkommen derjenigen, die einen festen Arbeitsplatz haben, steigen langsam wieder an. Der Lebensstandard der Familien, in denen es mindestens einen Vollzeitbeschäftigten gibt, ist stabil.

Doch viele gering Qualifizierte, Minijobber oder (Schein-)Selbstständige haben kaum mehr als das Existenzminimum, wie viele Rentnerinnen und Rentner inzwischen auch. Armut im Alter ist in der Gegenwart angekommen. Das zeigt auch der enorme Zulauf zu den inzwischen 900 „Tafeln“, die bedürftige Menschen mit Lebensmitteln versorgen.

Die Kluft zwischen den Schichten ist größer geworden in den letzten 15 Jahren – ohne dass es zu größeren sozialen Konflikten gekommen ist. Ob das angesichts der wachsenden Zahl von Flüchtlingen auch für die Zukunft gilt, bleibt abzuwarten.