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Einheitsfeier vor dem Reichstag am 3. Oktober 1990: Bundeskanzler Helmut Kohl, seine Frau Hannelore Kohl, Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher, Bundespräsident Richard von Weizsäcker und Willy Brandt

Nach dem Fall der Mauer: Es wächst zusammen, was zusammengehört

Endlich wiedervereint. Die Euphorie in Deutschland ist groß. Doch schon bald macht sich Ernüchterung breit. Im Osten, weil sich die Hoffnung auf bessere Lebensbedingungen nur langsam erfüllt, im Westen, weil die Wiedervereinigung auch finanzielle Opfer verlangt. Erst um 2010 wendet sich das Blatt. Es geht wieder aufwärts.

Die deutsche Einheit zu gestalten, ist alles andere als einfach: Marode, nicht wettbewerbsfähige Betriebe werden abgewickelt, die Verbesserung der Infrastruktur und die Sanierung von Städten verschlingt Milliarden. Die Menschen im Osten lernen, ihre Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen. Die „Fürsorge“ des sozialistischen Staates, der – zumindest denen, die politisch angepasst waren – Wohnung, Ausbildung und Arbeit bereitstellte, ist vorbei. Eine Umstellung, die besonders den Älteren schwerfällt.

Um die Wiedervereinigung zu finanzieren werden die Sozialkassen geplündert und ein Solidaritätszuschlag auf die Einkommenssteuer erhoben. Dennoch steigt die Arbeitslosigkeit im Osten zunächst dramatisch an, die von Kanzler Helmut Kohl versprochenen „blühenden Landschaften“ verarmen. Erst nach der Jahrtausendwende verbessert sich die Lage im Osten. Doch ganz überwunden sind die Folgen der Teilung Deutschlands bis heute nicht. 

1998 wird Helmut Kohl nach 16 Jahre abgewählt. Die rot-grüne Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) und Bundeaußenminister und Vizekanzler Joschka Fischer (Bündnis 90/Die Grünen) übernimmt das Ruder. Die Herausforderungen sind groß: Sie muss die durch Wiedervereinigung und Bevölkerungsrückgang angeschlagenen Sozialsysteme sanieren und Rahmenbedingungen für die Globalisierung der Wirtschaft schaffen. Sie beschließt den stufenweisen Ausstieg aus der Kernenergie und treibt die Einigung Europas weiter voran. Im Jahr 2001 beginnt mit der Einführung des Euro eine neue Etappe in der Geschichte der Europäischen Union. 

Mit dem Anschlag auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 ändert sich die politische Lage in der Welt schlagartig. Der Kampf gegen den Terrorismus dominiert seitdem die Außenpolitik. Die USA ziehen in den Krieg gegen die Taliban in Afghanistan und gegen Saddam Hussein im Irak. SPD und Grüne, die derartige Einsätze immer abgelehnt haben, sind in einem Dilemma: Sie können ihren wichtigsten Verbündeten, die USA, nicht im Stich lassen, wollen sich aber an Kampfeinsätzen nicht beteiligen. Die Regierung Schröder/Fischer verweigert die Teilnahme am Krieg gegen den Irak, entsendet aber Bundeswehrsoldaten in mehrere Kriegs- oder Krisengebiete, z.B. nach Afghanistan.

Die umstrittenen Hartz-Reformen

Doch gescheitert ist die rot-grüne Koalition nicht an der Außenpolitik. Es sind die „Hartz-Reformen“, die sie die Mehrheit kosten. Um die Staatsfinanzen zu stabilisieren und die Arbeitslosigkeit einzudämmen, werden Leistungen aus Arbeitslosen- und Rentenversicherung gesenkt. Viele traditionelle SPD-Wähler wenden sich bei den nächsten Bundestagswahlen von ihrer Partei ab. 

Allerdings hat das bürgerliche Lager auch keine Mehrheit. So kommt es 2005 zu einer großen Koalition aus CDU/CSU und SPD. Angela Merkel (CDU) wird Bundeskanzlerin, die erste Frau in diesem Amt, Franz Müntefering (SPD) Vizekanzler und Bundesarbeitsminister. Die Große Koalition setzt außen- und innenpolitisch die Politik ihrer Vorgängerin fort. Besonders umstritten ist die 2007 beschlossene Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die stufenweise Einführung der „Rente mit 67“. In der Bankenkrise vom Herbst 2008 sorgt die Regierung mit der Garantie der Spareinlagen für eine Stabilisierung des (deutschen) Finanzmarktes.

Vier Jahre später schmiedet Angela Merkel eine Koalition aus CDU/CSU und der Freien Demokratischen Partei Deutschlands (FDP). Die Liberalen, die schon unter Helmut Kohl eine neo-liberale Politik verfolgten, setzen weitere Deregulierung und Flexibilisierung in der Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsmarktpolitik durch. Doch es kommt auch zu einigen überraschenden innenpolitischen Entscheidungen: Die Wehrpflicht, bis dahin unantastbar, wird abgeschafft.  Die Rückkehr zur Kernenergie – von der CDU/CSU und FDP Regierung kurz nach ihrem Amtsantritt beschlossen – wird nach dem Reaktorunglück von Fukushima in Japan rückgängig gemacht. 

Erneute Große Koalition

Nach der Bundestagswahl 2013 wird erneut eine schwarz-rote Regierung gebildet, nun unter Angela Merkel und Sigmar Gabriel (SPD) als Vizekanzler und Bundeswirtschaftsminister. In den Koalitionsverhandlungen werden einige sozialpolitische Reformen vereinbart: Die unter Schröder verabschiedeten Sozialgesetze werden im Interesse der Leistungsempfänger nachgebessert, der von den Gewerkschaften seit Jahren geforderte gesetzliche Mindestlohn von 8.50 € pro Stunde wird eingeführt. Die Mütterrente wird aufgestockt und Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die 45 Jahre gearbeitet haben, können ab 63 ohne Abzüge in Rente gehen. Dank sinkender Arbeitslosigkeit und wachsenden Steuereinnahmen können diese zusätzlichen Ausgaben für die Sozialpolitik ohne Neuverschuldung finanziert werden.  

Innenpolitisch steht Deutschland also gut da in diesem zweiten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts. Doch außenpolitisch spitzt sich die Lage zu: Einige europäische Staaten stehen kurz vor dem Konkurs und können nur durch Milliarden-Kredite und Bürgschaften vor dem Kollaps bewahrt werden. Kriege und terroristische Attentate nehmen zu, mehr als 60 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht. Die Welt gerät aus den Fugen.
Im Jahr 2015 erreichen mehr als eine Million Flüchtlinge Deutschland. Das seien zu viele, meinen Politiker nahezu aller Parteien und setzen die Kanzlerin wegen ihrer Politik der offenen Grenzen zunehmend unter Druck.

Die innenpolitisch ruhigen Jahre sind fürs Erste vorbei.