Quelle: JH Darchinger
Breites Bündnis gegen den Abbau demokratischer Rechte: Verabschiedung der Notstandsgesetze
Mit der Großen Koalition tritt der Konflikt um die Notstandsgesetze in seine entscheidende Phase. Nach weiteren parlamentarischen Beratungen und Bundestags-Hearings und trotz zahlreicher Tagungen und Kongressen von Gewerkschaften und SPD sind die Positionen zur Notstandsgesetzgebung nahezu unverändert. Die Mehrheit der SPD-Führung akzeptiert das Gesetzesvorhaben.
Allerdings gibt es auch Widerspruch in der Bundestagsfraktion: zirka 80 Abgeordnete – vor allem Gewerkschafter um Kurt Gscheidle, Helmut Lenders, Hans Matthöfer – legen im Juni 1967 Änderungsanträge vor. Sie zielen darauf ab, das Recht auf Arbeitskampf und politischen Streik abzusichern. Innerparteiliche Unterstützung findet diese Position vor allem im SPD-Bezirk Hessen-Süd, speziell im Unterbezirk Frankfurt/Main, dem Sitz des IG Metall-Vorstandes.
Die SPD-internen Kritiker wissen die Mehrheit der Gewerkschaften an ihrer Seite, die an der Ablehnung der Notstandsgesetzgebung festhalten. Doch auch hier gibt es Meinungsverschiedenheiten: IG Metall-Chef Otto Brenner lehnt die Notstandsgesetze weiterhin grundsätzlich ab, der DGB-Vorsitzende Ludwig Rosenberg und Georg Leber von der IG Bau, Steine, Erden sind bereit, unter bestimmten Bedingungen zuzustimmen.
Der von Bundesinnenminister Ernst Benda (CDU) im Frühjahr 1968 vorgelegte Gesetzentwurf ruft noch einmal heftige außerparlamentarische Proteste hervor. Allerdings klinken sich die Gewerkschaften aus der Anti-Notstandsgesetz-Bewegung aus. Während die Studentenbewegung für den 11. Mai 1968 zum Sternmarsch nach Bonn aufruft, lädt der DGB für den selben Tag zu einer Saalkundgebung nach Dortmund ein. Ein Akt, der bei vielen auf Unverständnis stößt. So kommt es, anders als vom DGB-Vorstand beabsichtigt, im Mai 1968 in einzelnen Betrieben zu Proteststreiks, Arbeitsniederlegungen und Demonstrationszügen auch von Gewerkschaftsmitgliedern. Die Notstandsgesetze werden dennoch am 30. Mai 1968 mit den Stimmen der Mehrheit der SPD-Fraktion verabschiedet.
Die Verfassungsänderung unterscheidet sich deutlich von den ersten Gesetzentwürfen, die Schröder (CDU) und Höcherl (CSU) vorgelegt hatten. So differenziert die verabschiedete Notstandsverfassung zwischen einem „inneren Notstand“ und dem „Verteidigungsfall“. Der „innere Notstand“ kann nur mit einer Zweidrittelmehrheit des Bundestags ausgerufen werden. Erst im Verteidigungsfall hat der Gemeinsame Ausschuss als Notparlament Gesetzgebungsbefugnis. Schon in einem früheren Beratungsstadium sind das Notverordnungsrecht der Regierung sowie zahlreiche Eingriffe in den Grundrechtskatalog gefallen.
Für die Gewerkschaften von besonderem Interesse ist, dass die Notstandsgesetze Klauseln zum Arbeitskampfrecht und Widerstandsrecht enthalten. Beide sind aus Sicht der Gewerkschaften nicht unproblematisch: So werden zum einen Streik und Aussperrung gleichermaßen im Grundgesetz garantiert. Zum anderen istdie Formulierung zum Widerstandsrecht immer wieder Anlass zu einer Diskussion darüber, ob politische Protestaktionen gegen Entscheidungen des Bundestages zulässig sind.
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