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Heutige historische Bewertung: Weimar war kein "Gewerkschaftsstaat"
Die Politik der Gewerkschaften in der Weimarer Republik richtig einzuordnen, ist schwierig. Gewiss springen zunächst die Errungenschaften der Arbeitnehmerschaft in der Weimarer Republik ins Auge: Gleiches Wahlrecht und parlamentarische Demokratie, Anerkennung von Vereinigungsfreiheit und sozial- und wirtschaftspolitischen Mitspracherechten, Achtstundentag und Betriebsrätegesetz, Ausbau der Sozialpolitik bis hin zur Schaffung der Arbeitslosenversicherung – die Liste der Verbesserungen in den Zeiten von Revolution und Republik ließe sich noch verlängern.
Nicht zu übersehen ist auch, dass Gewerkschafter verstärkt in die Parlamente aller Ebenen und in leitende Verwaltungs- und Regierungsstellen einrückten, in denen sie als „politische Reserve-Elite” eine wesentliche Stütze der Demokratisierungsbemühungen bilden.
Allerdings haben die Errungenschaften, die die Gewerkschaften aller Richtungen – wenn auch mit jeweils abgestufter Berechtigung – für sich verbuchen, einige Schwachstellen: Der Achtstundentag kann nicht gehalten werden, die Mitspracherechte auf betrieblicher Ebene und in den Gremien der Sozial- und Wirtschaftspolitik sind eng begrenzt oder stehen nur auf dem Papier. Die Sozialpolitik löst sich nicht aus der Abhängigkeit von der Wirtschaftslage, auf deren Entwicklung die Gewerkschaften ohnehin keinen Einfluss nehmen können. Sozialpolitik und Lohnhöhe werden darüber hinaus von den Arbeitgebern für Kampagnen gegen die Gewerkschaften genutzt. Diese seien Schuld an der krisenhaften Wirtschaftsentwicklung. Sie sprechen den Gewerkschaften bald die Existenzberechtigung ab und wenden sich zunehmend von der parlamentarischen Demokratie ab.
Aber rechtfertigen die Erfolge der gewerkschaftlichen Politik das Urteil, die Weimarer Republik sei ein „Gewerkschaftsstaat” gewesen? Ohne Zweifel wandelt sich die Stellung der Gewerkschaften in Staat und Gesellschaft mit der Gründung einer parlamentarischen Demokratie: Ihnen werden ganz neue Möglichkeiten zugestanden, ihren Einfluss politisch geltend zu machen. Und umgekehrt werden die Gewerkschaften von einigen Parteien als Instrumente der Wählerbeeinflussung und -mobilisierung Ernst genommen.
Einfluss dennoch begrenzt
Doch aus der Integration der Gewerkschaften in das politische System kann man nicht schließen, sie hätten einen bestimmenden Einfluss ausgeübt. Zu oft werden ihnen die Grenzen ihrer Macht vor Augen geführt. Die Reihe der Niederlagen reicht von den Kapp-Putsch-Folgen über die gesetzliche Arbeitszeitregelung und die Steuer- und Wirtschaftspolitik bis hin zur Arbeitsmarktpolitik.
Die Grenzen der gewerkschaftlichen Interessenvertretung einerseits, die Indienstnahme der Gewerkschaften durch den Staat – etwa im Ruhrkampf – andererseits, lassen die Weimarer Republik gewiss nicht als „Gewerkschaftsstaat” erscheinen. Nicht einmal von einer Tendenz zur Verabsolutierung des gewerkschaftlichen Machtanspruchs wird man sprechen können. Machtteilhabe im Konzept einer pluralistischen Gesellschaftsordnung – so lautete die Devise der Gewerkschaften. Vermutlich war es ihnen nicht einmal bewusst, dass sie in den 1920er Jahren entscheidend dazu beigetragen haben, unter extrem schwierigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen einen ersten Versuch zur Realisierung einer sozialen und demokratischen Gesellschaftsordnung, zum Aufbau des modernen Sozialstaates zu machen.
Mögen die Gewerkschaften sich auch als zu schwach erwiesen haben, die Weimarer Republik zu retten, deren sinkende Attraktivität die Zahl ihrer Gegner ständig anwachsen ließ. Die Gewerkschaften haben nicht zu denen gehört, die die Weimarer Republik willentlichen zerstört haben.
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Zum Artikel "Vereinigungsdebatte": Ulrich Borsdorf, Hans O. Hemmer u. Martin Martiny (Hrsg.), Grundlagen der Einheitsgewerkschaft. Historische Dokumente und Materialien, Köln u. Frankfurt/M.1977, S.196 ff.