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Annäherung der Richtungsgewerkschaften: Mehr Gemeinsamkeiten als Gegensätze
Verglichen mit den scharfen Kontroversen der Vorkriegszeit, kommt es in den 1920er Jahren zu einer deutlichen Annäherung der Gewerkschaftsrichtungen. Tarifverhandlungen und Arbeitskämpfe werden überwiegend gemeinsam geführt und die sozialpolitischen Forderungen nach der Erhöhung einzelner Sozialleistungen, nach Einrichtung der Arbeitslosenversicherung und neuem einheitlichen Arbeitsrecht gleichen einander bis zur Identität. Schließlich spielt auch die nationale Komponente eine Rolle, was sich an der bereitwilligen Einbindung aller Gewerkschaften in die Politik gegen die Ruhrbesetzung zeigte.
Die Gemeinsamkeiten in den Wirtschaftsordnungsdebatten der Revolutionszeit und auch in der Diskussion um die Wirtschaftsdemokratie sind unübersehbar: Christliche, Hirsch-Dunckersche wie Freie Gewerkschaften glauben sich mit der Gründung der ZAG, mit der Verankerung von Vereinigungsfreiheit und weit gehenden wirtschaftlichen Mitbestimmungsrechten in der Verfassung im Grunde am Ziel ihrer Wünsche nach einer gleichberechtigten Mitwirkung der Arbeiterschaft an der Gestaltung von Wirtschaft und Staat. Alle drei müssen jedoch bald einsehen, dass den 1918/19 kodifizierten Rechten keine Neuverteilung der realen Machtpositionen entspricht. Diese Erfahrung ist der Ausgangspunkt der unterschiedlichen Wirtschaftsdemokratie-Programme, die Mitte der Zwanziger Jahre von den Richtungsgewerkschaften diskutiert werden.
Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine: Gleichberechtigung
Die Forderung nach Mitbeteiligung und Mitbestimmung finden bei den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen entschiedene Befürwortung. Durch die Schaffung von Kooperationsinstanzen soll die Gleichberechtigung der Arbeitnehmer in Wirtschaft und Staat hergestellt werden. „Die Gewerkschaftsbewegung ist von jeher” – so betont Anton Erkelenz auf dem 3. Kongress des Gewerkschaftsringes 1926 – „eine Kraft der Demokratie gewesen und wird es bleiben”.
Die Bejahung der politischen und der wirtschaftlichen Demokratie, Letztere insbesondere auszubauen durch die Betriebsräte, bildet einen zentralen Punkt der Gewerkvereins-Programmatik. Doch die Situation der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine wird schwierig. Denn sie können nicht auf eine dem Sozialismus bzw. dem Christentum vergleichbare „Identität” zurückgreifen. Mit Stagnation und politischer Heimatlosigkeit spiegeln sie den Niedergang der liberalen Parteien.
Christliche Gewerkschaften: Mitbesitz und Mitbestimmung
Auch die Christlichen Gewerkschaften treten – so ihr wirtschaftspolitischer Sprecher Friedrich Baltrusch – für Mitbesitz und Mitbestimmung als Voraussetzungen einer Demokratisierung der Wirtschaft ein. Konkrete Gestalt gewinnt diese Forderung mit dem Grundsatzreferat des Textilarbeiterführers Heinrich Fahrenbrach auf dem Dortmunder Kongress der Christlichen Gewerkschaften im April 1926. Seine Ideen prägen die hier verabschiedete programmatische Resolution unter dem Titel „Mitbestimmung und Mitbesitz“.
Parallel dazu beharren die christlichen Gewerkschaften indessen auf ihrer weltanschaulichen Eigenständigkeit. Christliche Gemeinschaftsidee gegen mechanistisch-klassenkämpferischen Sozialismus und materialistischen Mammonismus – das ist die Devise der Christlichen Gewerkschaften, mit der nicht zuletzt die Existenz der eigenen Verbände legitimiert werden soll. Ausdruck findet dies im Programm von 1923, in dem „Die geistigen Grundlagen der christlich-nationalen Arbeiterbewegung” entwickelt wurden.
Freie Gewerkschaften: Wirtschaftsdemokratie
Während Christliche Gewerkschaften und Hirsch-Dunckersche Gewerkvereine ihre Identität gerade aus der Abgrenzung vom Sozialismus beziehen, bekennen sich die Freien Gewerkschaften auf dem Hamburger Kongress 1928 ausdrücklich zu diesem Ziel. Auf diesem Kongress präzisieren die Freien Gewerkschaften, ganz unter dem Eindruck der relativen wirtschaftlichen Konsolidierung und des Wahlerfolgs der SPD vom Mai 1928, ihre Vorstellungen zur Demokratisierung der Wirtschaft. Fritz Naphtali geht in seinem Referat über „Die Verwirklichung der Wirtschaftsdemokratie” von dem Grundsatz aus, dass die 1918 errungene politische Demokratie der Ergänzung und Absicherung durch die Demokratisierung der Wirtschaft bedürfe. In der in Hamburg mit großer Mehrheit verabschiedeten Resolution ist ein Bündel von Maßnahmen aufgelistet, die das Ziel haben, in die zentralen wirtschaftlichen Entscheidungen einzugreifen. Die betriebliche Ebene bleibt demgegenüber deutlich unterbelichtet.
Das Konzept der Wirtschaftsdemokratie wird von den Arbeitgebern, besonders deutlich auf der RDI-Tagung „Das Problem der Wirtschaftsdemokratie“, scharf als weiterer Schritt zur Vernichtung der unternehmerischen Freiheit abgelehnt. Nicht minder scharf weist die KPD, vertreten durch Walter Ulbricht, das Konzept als Ausdruck „wirtschaftsdemokratischer Illusionen” zurück. Um sich von den Freien Gewerkschaften abzusetzen, treibt sie die organisatorische Verselbstständigung kommunistischer Gewerkschafter in der Revolutionären Gewerkschaftsopposition bzw. -organisation (RGO) voran.
Stellung zur Republik
Die in der gewerkschaftlichen Tagesarbeit zutage tretenden Tendenzen zur Annäherung der großen Richtungsgewerkschaften haben jedoch nicht nur weltanschauliche Grenzen zu überwinden. Grundlegende Unterschiede zwischen Freien und Hirsch-Dunckerschen Organisationen einerseits und Christlichen Gewerkschaften andererseits zeichnen sich auch im Verhältnis zur parlamentarischen Republik Weimarer Prägung ab. Gewiss: Die Freien Gewerkschaften haben kein ungebrochenes Verhältnis zur Weimarer Republik. Sie bejahen die parlamentarische Demokratie vielfach „nur” als Boden der eigenen Interessenvertretung, weil sie die besten Bedingungen zum Aufbau einer sozialen Demokratie bzw. des Sozialismus biete.
Anders als die Freien sind sich die Christlichen Gewerkschaften keineswegs darin einig, dass die Republik die Staatsform sei, in der der von ihnen geforderte „soziale Volksstaat” am ehesten zu verwirklichen sei. Klärung in dieser Frage sollen Referat und Resolution von Adam Stegerwald, dem Vorsitzenden des Gesamtverbandes und DGB, auf dem Dortmunder Kongress der Christlichen Gewerkschaften 1926 bringen. Den anzustrebenden Volksstaat könne es – so Stegerwald – in der Form der Monarchie oder auch der Republik geben: Höher als die Staatsform stehe für die Christlichen Gewerkschaften der Staat selbst.
Mit dieser Abstraktion von der konkreten Gegenwartskontroverse behaupten sie, man könne „grundsätzlich Monarchist und trotzdem ein guter Diener der Republik” sein. Hindenburg gilt als Beispiel. Stegerwald betont, die Christlichen Gewerkschaften seien sich darüber im Klaren, „daß eine Änderung der Staatsform auf gewaltsamem Wege [. . .] nicht in Frage kommt”, und unterstreicht damit indirekt die Abneigung der Christlichen Gewerkschaften gegen die bestehende Republik.
Die Vorbehalte gegen die Republik werden auch in der Resolution deutlich, die zu ändern sich die Republikaner um Karl Arnold vergeblich bemühen. So bekennen sich die Christlichen Gewerkschaften 1926 zum „Staat und zu seinen christlich-nationalen Grundlagen” und lehnen „alle Bestrebungen ab, die auf illegalem Wege eine Änderung der Staatsform herbeiführen wollen”. Die Weigerung, ein grundsätzliches Bekenntnis zur Weimarer Demokratie abzulegen und nur den „illegalen” Weg zu einer Änderung der Staatsform zu verwerfen, verleiht der Kritik am „gegenwärtigen deutschen parlamentarischen Regierungssystem”, das „als vollkommen nicht angesehen werden” könne, in der Kongress-Resolution einen starken Akzent. Damit ist die Kontroverse um die Stellung zur Republik keineswegs entschieden. Schon wenige Jahre später – in der Weltwirtschaftskrise – lebt sie wieder auf.
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