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Gewerkschaften und SPD: Einheitsfront für den Krieg
Schon um die Jahrhundertwende warnen Teile der Gewerkschaftsbewegung und der Sozialdemokratischen Partei angesichts der Hochrüstungspolitik in Europa vor der wachsenden Kriegsgefahr. Doch überzeugend ist die Anti-Kriegshaltung der deutschen Arbeiterbewegung nicht.
Zwar veröffentlicht die Generalkommission der Freien Gewerkschaften am 1. August 1914, dem Tag der deutschen Mobilmachung, noch einen Friedensappell, aber bereits am folgenden Tag stellt die Vorständekonferenz resigniert fest: „Alle Bemühungen der organisierten Arbeiterschaft, den Frieden aufrechtzuerhalten, den mörderischen Krieg zu bannen, sind vergeblich gewesen.”
Stellungnahme zur „Kriegsgefahr“ im Correspondenzblatt vom 1. August 1914 (pdf)
Doch hinter diesem resignativen Beschluss verbirgt sich mehr. Tatsächlich identifizieren sich Freie Gewerkschaften und SPD inzwischen mit dem Wilhelminischen Kaiserreich. Voll Stolz blicken sie auf die organisatorischen und sozialpolitischen Erfolge, die sie errungen haben. Beide sehen es daher als ihre patriotische Pflicht an, den Krieg zu unterstützen. Sie akzeptieren den Burgfrieden vom 2. August 1914 und stellen ab sofort alle innenpolitischen Konflikte zurück. Am 17. August 1914 beschließen die Freien Gewerkschaften offiziell, auf alle Lohnkämpfe zu verzichten. Sie hoffen durch das Wohlverhalten, ihre Organisation über die Kriegszeit retten und weitere soziale Reformen erkaufen zu können.
Aufruf der Vorständekonferenz der Gewerkschaften vom 2. August 1914 (pdf)
Christliche Gewerkschaften: Sittliche Volkserneuerung
Für die christlich-nationalen Gewerkschaften ist die Eingliederung in die „nationale Einheitsfront” eine Selbstverständlichkeit. Sie sehen in dem Krieg eine „Bewährungsprobe”, die eine „sittliche Volkserneuerung” erzwinge. So steht es im Jahrbuch 1915. Und weiter heißt es dort: Der Krieg sei „der Feuerofen, der die Menschheit von Schlacken und Fehlern reinigt”. Zwar habe „der Krieg die äußere Kultur und das äußere Glück des Menschen bedroht; den inneren Menschen aber hat er veredelt und emporgehoben”. Theodor Brauer, der führende Theoretiker der Christlichen Gewerkschaften, setzt noch eins drauf. Er preist den Krieg „mit seinen Begleiterscheinungen” als „eine grandiose, in ihrer Art überwältigende Bestätigung der Grundsätze” der christlichen Arbeiterbewegung.
Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine reihen sich ein
Auch die freiheitlich-nationalen Gewerkvereine reihen sich bereitwillig in die „nationale Einheitsfront” ein. In der Burgfriedenspolitik der Freien Gewerkschaften sehen sie eine „glatte Anerkennung ihrer Grundsätze”. Auch sie erwarten, die durch den Krieg geborene „Volksgemeinschaft” werde zu einer dauerhaften sozialen Verständigung, zu einer Politik der sozialen Reformen führen.
Gewerkschaften nähern sich an
Groß ist der Unterschied also nicht zwischen den Richtungsgewerkschaften. Sie alle hoffen durch den Verzicht auf eine kämpferische Interessenpolitik während des Krieges, überfällige Verbesserungen einklagen zu können. Angesichts der Begeisterung der Bevölkerung in den ersten Kriegsmonaten bejubelt die „Metallarbeiter-Zeitung” nicht nur das „solidarische Zusammenarbeiten” aller Volksschichten, sondern sieht gar den „Sozialismus, wohin wir blicken“. Das „Correspondenzblatt”, herausgegeben von der Generalkommission der Gewerkschaften, betont im April 1915, das Reich könne nicht „mit einer Hand voll Kapitalisten gegen eine Welt von Feinden” verteidigt werden. Eben weil die Arbeiterschaft ihre Pflicht erfüllt habe, weil sie gebraucht werde, weil sie die Hauptlast des Krieges trage, eben darum müssten die „Zeiten des Fabrikfeudalismus [. . .] endgültig vorbei” sein.
Rückblick auf das Jahr 1914 im Correspondenzblatt vom 2. Januar 1915 (pdf)
Verglichen damit sind die Erwartungen der Freien Gewerkschaften zurückhaltend. Unter dem programmatischen Titel „Arbeiterinteressen und Kriegsergebnis“ fordern sie 1915 eine „Belohnung” für die von der Arbeiterschaft erbrachten Opfer. Nach dem „Siegfrieden” müsse das preußische Dreiklassenwahlrecht fallen und das Koalitionsrecht für alle Arbeitnehmer ausgebaut werden.
Einige Gewerkschaften äußern sich aber auch zu militär-politischen Zielen. So bezeichnet etwa das „Correspondenzblatt“ noch zu Jahresbeginn 1916 es als „Zumutung”, die besetzten „Gebiete ohne irgendwelche Entschädigung für die seither aufgewandten Kriegsopfer zu räumen“. Dies sei „so absurd, dass kein Deutscher sich darüber in Erörterungen einlassen wird”. Im Mai 1917 – also nach dem Kriegseintritt der USA – versteigt sich Adam Stegerwald von den Christlichen Gewerkschaften zu der Devise: „Wenn ein Machtfrieden erreichbar ist, dann unter allen Umständen einen Machtfrieden.” Im Oktober 1917 legt Stegerwald noch einmal nach: Er plädiert für die „rücksichtslose Fortsetzung des Krieges”, obwohl zu diesem Zeitpunkt bereits absehbar ist, dass der Krieg nicht mehr gewonnen werden kann.
Fazit: Die inhaltlichen Unterschiede zwischen den Richtungsgewerkschaften sind nicht groß. Allenfalls der Tonfall ist bei einigen Gewerkschaften manchmal etwas rüder.
Starke Mitgliederverluste
Doch Selbstvertrauen und Zuversicht der Gewerkschaften zu Beginn des Krieges können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gewerkschaften in einer Krise stecken. Schon 1913 wirkt sich die abflauende konjunkturelle Entwicklung nachteilig auf die Mitgliederzahlen aus. Zwar bessert sich die Lage im Frühjahr 1914 kurzfristig, doch der Beginn des Ersten Weltkrieges beeinträchtigt das Wirtschaftsleben in Deutschland massiv und damit auch die Mitgliederentwicklung.
Die Einberufung der Männer zum Militär und die Stilllegungen von Betrieben, in denen Verbrauchsgüter hergestellt werden, führen zu Arbeitslosigkeit und einer hohen Fluktuation in den Belegschaften. Auch die Bereitschaft der Gewerkschaften, die Burgfriedens-Politik zu akzeptieren, trägt vermutlich mit dazu bei, dass viele Arbeiter und Arbeiterinnen keine Notwendigkeit mehr sehen, Mitglied einer Gewerkschaft zu werden. Die Folge: Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder sinkt zwischen 1913 und 1916 von fast drei Millionen auf knapp 1,2 Millionen. Allein die Freien Gewerkschaften verlieren mehr als 1,5 Millionen Mitglieder.
Das Gewerkschaftsleben kommt zum Erliegen
Angesichts des Mitgliederrückgangs und der Einberufungen von Funktionären und Vertrauensleuten kommt das Gewerkschaftsleben in vielen kleineren Bezirken und Zahlstellen nahezu zum Erliegen. Die Gewerkschaftspresse wird zensiert, sinkende Einnahmen und steigende Unterstützungsausgaben leeren die Gewerkschaftskassen. Gewerkschaftskongresse und Gewerkschaftstage der Einzelgewerkschaften werden aus finanziellen und politischen Gründen gestrichen. Auf den wenigen lokalen Gewerkschaftsversammlungen, die zwischen 1914 und 1918 stattfinden, ist das Thema Krieg tabu. Carl Legien, der Vorsitzende der Generalkommission der Gewerkschaften, kündigt bereits unmittelbar nach Ausbruch des 1. Weltkrieges an: „Wie die Dinge heute liegen, hört die Demokratie in den Gewerkschaften auf; jetzt haben die Vorstände auf eigene Verantwortung zu entscheiden, und zwar so, wie sie es vor ihrem Gewissen verantworten können.” Damit fügt sich Legien – und mit ihm die anderen Gewerkschaftsvorstände – sehr schnell den angeblichen kriegsbedingten „Sachzwängen” und setzt die innergewerkschaftliche Demokratie außer Kraft. Die Folgen bekommen die Gewerkschaften schon bald zu spüren: Die Unzufriedenheit der Mitglieder über den politischen Kurs der Gewerkschaften wächst, Führung und Basis entfremden sich.
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