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Bergarbeiterstreik 1905: Streikende beim Lesen des Schießerlasses

Tarifpolitik: Kampf gegen soziale Missstände

Ein Blick nur auf die Organisationsarbeit und nur auf die Kongress- und Pressefehden ließe ein falsches Bild entstehen. Denn die „eigentliche“ Gewerkschaftsarbeit im Kaiserreich ist der alltägliche Kampf gegen soziale und wirtschaftliche Missstände, gegen rechtliche Benachteiligungen der Arbeiterschaft und ihrer Organisationen und gegen ihre gesellschaftliche Ausgrenzung.

Schon in der Gründungsphase der Gewerkschaften zeigt sich die große Bedeutung, die dem Arbeitskampf als Motor der Organisation beizumessen ist. Das ändert sich auch in der späteren Entwicklung nicht, steigen doch die Mitgliederzahlen kurz vor erwarteten Arbeitskämpfen oftmals dramatisch an. Und auch wenn ein Teil der neugewonnenen Mitglieder bald nach dem Ende des Konflikts der Gewerkschaft wieder den Rücken kehrt, so ist doch zumeist eine Steigerung der Mitgliederzahl zu verzeichnen.

Den Gewerkschaften aller Richtungen ist klar, dass der Streikerfolg nicht nur von der wirtschaftlichen Lage in dem betroffenen Gewerbezweig, sondern ganz maßgeblich von der Stärke der Arbeitsmarktparteien und damit von Organisationsgrad und finanzieller Kraft der Gewerkschaften abhängig ist.

Dies wird durch die Zahlen deutlich belegt: In den Jahren wirtschaftlicher Krise und schwacher Gewerkschaftsorganisation von 1890 bis 1894 sind von 544 Streiks der Freien Gewerkschaften nur 32,9 Prozent erfolgreich, eine Angabe der Gewerkschaften, die unter Umständen noch geschönt ist. Von den in einer Phase wirtschaftlicher Entwicklung und steigender gewerkschaftlicher Organisationsstärke von 1895 bis 1899 geführten 3.226 Streiks sind hingegen 57,8 Prozent erfolgreich für die Arbeitnehmerschaft. Deshalb wird in der Presse der Freien Gewerkschaften dafür plädiert, zunächst einmal die Organisation zu stärken – und überdies mehr Vernunft in der „Taktik bei Lohnbewegungen” walten zu lassen. Nach der „Sturm- und Drangperiode” von spontanen Proteststreiks sollen die Gewerkschaften nun, so heißt es 1897, „System in ihre Kriegsführung [. . .] bringen”. Die Streikreglements, die den Arbeitskampfbeschluss möglichst überörtlichen Gremien übertragen, befolgen und verstärken diese Entwicklung, die einerseits die Schlagkraft der Organisation durch rationalen Einsatz der Mittel erhöht, die aber andererseits vielfach den Eindruck der Basis-Ferne der Gewerkschaftsvorstände verfestigt.

Ohne Zweifel nehmen Zahl und Bedeutung örtlicher Spontan-Streiks ab. Es gibt sie zwar noch – und immer wieder: Zu denken ist an den 1896 von der Berliner Konfektionsindustrie ausgehenden Streik, an den Ausstand der Hamburger Hafenarbeiter 1896/97 und an den Streik der Ruhrbergarbeiter 1905. Diese Streiks werden entweder gegen oder ohne gewerkschaftliche Willensäußerung begonnen, von den Gewerkschaften aber zum Teil nachträglich übernommen. Der Trend geht jedoch eindeutig zu den gut organisierten Arbeitskämpfen, in denen sich bald Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände gegenüberstehen.

Christliche Gewerkschaften: Keine Kirchenknechte

Hat der Arbeitskampf im „Weltbild” der Freien Gewerkschafter ohnehin seinen festen Platz, so bedeutet es für die Christlichen Gewerkschafter eine bittere Erfahrung, dass die Arbeitgeber keineswegs bereit sind, ihren arbeitsgemeinschaftlichen Vorstellungen entgegenzukommen. Petitionen werden nicht beantwortet, Verhandlungsangebote zurückgewiesen. Die Christliche Gewerkschaftsbewegung wird also keineswegs bevorzugt. Eher im Gegenteil: Sie wird als eine besonders raffinierte Variante der Arbeiterbewegung eingestuft, die letztlich die Arbeiter der Sozialdemokratie in die Arme führen werde.

So werden die Christlichen Gewerkschaften schon in der Gründungsphase in zahlreiche Arbeitskämpfe verwickelt, wobei es die Arbeitgeber mit ihren Aussperrungen bewusst darauf anlegen, die jungen Organisationen zum Zusammenbruch zu bringen. Die Christlichen Verbände beteiligen sich jedoch oftmals an den Streiks, um dem Ruf entgegenzuwirken, wirtschaftsfriedliche „Unternehmerknechte” bzw. „Kirchenknechte” zu sein. Bezogen auf die (geringen) Unterstützungsausgaben – die Beiträge sind aus Werbegründen zunächst sehr niedrig – übersteigt der Anteil der Ausgaben für Arbeitskämpfe den der Freien Gewerkschaften.

Erst nach 1905/06 – in der Konsolidierungsphase – pendeln sich Beiträge und Ausgaben für Unterstützungswesen und Arbeitskämpfe in etwa auf dem Niveau der Freien Gewerkschaften ein. Allerdings blieb der Anteil der Christlichen Gewerkschaftsmitglieder, die an Arbeitskämpfen beteiligt sind, zunehmend deutlich hinter dem der Freien Gewerkschaften zurück.

Streiks sind eine zweischneidige Waffe, zumal wenn sie mit Aussperrung beantwortet werden. Zwar stärken sie Klassenbewusstsein und Solidarität der Arbeitnehmer, gleichzeitig gefährden sie nicht selten die Existenz der Gewerkschaften, wenn diese auf hartnäckigen Widerstand der Arbeitgeber treffen. Arbeitgeber nehmen Streiks fast immer zum Anlass, Formen gemeinsamer Abwehr zu entwickeln. Ein Beispiel dafür ist der Buchdrucker-Streik für die Durchsetzung des 9-Stundentags: Er dauert vom Oktober 1891 bis zum Januar 1892, es beteiligen sich 10.000 Gewerkschaftsmitglieder, er verschlingt die – damals enorm hohe – Summe von 1,25 Millionen Mark. Die Kassen des Buchdruckerverbandes sind leer, die Gewerkschaftsarbeit für die nächsten Jahre gelähmt. 

Ein anderes Beispiel ist der Streik in Crimmitschau, an dem sich zum ersten Mal in großem Umfang auch Frauen beteiligen. Hauptziel des Arbeitskampfes ist die Verkürzung der Arbeitszeit auf 10 Stunden pro Tag. Er wird von den Gewerkschaften zwar sorgfältig vorbereitet, fällt dann aber in eine konjunkturelle Flaute. Trotz finanzieller Unterstützung seitens der Gewerkschaften und Arbeitnehmern aus allen Teilen Deutschlands, haben die Streikenden der von den Arbeitgebern verhängten Aussperrung nichts entgegenzusetzen. Der Arbeitskampf endet mit einer schweren Niederlage der Streikenden bzw. Ausgesperrten.

Doch trotz des Risikos: Die Arbeitskämpfe nehmen zu. Das gilt für die Streiks, denkt man etwa an den Ausstand der Bergarbeiter an der Ruhr, an dem 1905 etwa 220.000 der 280.000 Bergarbeiter teilnehmen und nach vier Wochen einen Teilerfolg, die Einrichtung von Arbeiterausschüssen mit der Berggesetznovelle vom 14. Juni 1905, erreichen. Und das gilt für Aussperrungen: Immer häufiger greifen Arbeitgeber auf dieses „Kampfmittel“ zurück, Das zeigen u.a. die Strafaussperrungen anlässlich der Feiern zum 1. Mai 1890 und 1891 und die Aussperrung von 190.000 Arbeitnehmern im Baugewerbe 1910.

Berggesetznovelle vom 14. Juli 1905 (pdf)

Der Arbeitskampf im Baugewerbe ist jedoch nicht der letzte große Arbeitskampf vor dem Ersten Weltkrieg. Zu erinnern ist auch an den Streik von etwa 190.000 Bergarbeitern an der Ruhr im Jahre 1912, in dem sich geradezu beispielhaft das Zusammenwirken von Staatsverwaltung, Militär, Justiz und Unternehmerschaft zeigt. Außerdem illustriert dieser Streik die fatalen Auswirkungen einer gespaltenen Gewerkschaftsbewegung. Der Gewerkverein christlicher Bergarbeiter, der 1905 noch mitgestreikt hat, ist 1912 nicht zur Zusammenarbeit mit den Freien Gewerkschaften bereit. Er befürchtet wohl die Ablehnung der Christlichen Gewerkschaften durch den Papst. Der Streik endet mit einer schweren Niederlage.

Fazit: Anfang des 20. Jahrhunderts steigt die Zahl der Arbeitskämpfe deutlich an. Dabei geht es häufig darum, die Arbeitgeber überhaupt an den Verhandlungstisch zu bringen. Das gilt für die Großindustrie, aber auch für viele kleinere Unternehmen.

Die meisten Arbeitgeberverbände lehnen Tarifverträge grundsätzlich ab. So betrachtet der Centralverband Deutscher Industrieller noch 1905 Tarifverträge „als der deutschen Industrie und ihrer gedeihlichen Fortentwicklung überaus gefährlich”. Denn sie nähmen nicht nur dem Unternehmer die „notwendige Freiheit der Entschließung über die Verwendung seiner Arbeit und die Lohnfestsetzung”, sondern sie brächten den Arbeiter „unvermeidbar unter die Herrschaft der Arbeiterorganisationen”.

Aber auch bei den Gewerkschaften gibt es Vorbehalte. Während die Hirsch-Dunckerschen Gewerkverein und die Christlichen Gewerkschaften stets den Abschluss von Tarifverträgen befürworten, stehen einige Freie Gewerkschaften tarifpolitischen Vereinbarungen mit den Arbeitgebern skeptisch gegenüber. Sie befürchteten, der Tarifvertrag schädige den Kampfeswillen der Arbeiterschaft. Angesichts der Hochschätzung des Streiks, der – wie es im Correspondenzblatt im Mai 1893 heißt – „sicher am geeignetsten” sei, „die Arbeiter zum Klassenbewusstsein zu bringen”, kann es kaum verwundern, dass Tarife manchem als „Verrat am Klassenkampf” und als Ausdruck unentschuldbarer „Harmonieduselei” gelten. Erst der 3. Kongress der Freien Gewerkschaften, der 1899 in Frankfurt/Main zusammentritt, spricht sich eindeutig für den Tarifvertrag „als Beweis der Anerkennung der Gleichberechtigung der Arbeiter seitens der Unternehmer bei der Festsetzung der Arbeitsbedingungen” aus.

Stellungnahme des Correspondenzblatts vom 31. Mai 1897 zur Frage der Tarifverträge (pdf)

In den folgenden Jahren werben die Gewerkschaftsführer für den Abschluss von Tarifverträgen, die, so Carl Legien 1902, eine „Anerkennung des Mitbestimmungsrechts der Arbeiter” seien. Theodor Leipart stellt 1906 fest, Tarifverträge seien keine „Freundschaftsbündnisse mit dem Unternehmertum, sondern nur Waffenstillstandsverträge”. Diese Artikel und Reden weisen auf fortdauernde Vorbehalte gegen den Tarifvertrag hin, die es offensichtlich zu zerstreuen gilt. Doch der Widerstand der Arbeitgeber trägt schließlich dazu bei, auch diejenigen mit der Idee des Tarifvertrages versöhnen, die ihn als zu wenig klassenkämpferisch einstufen.

1899 schließen die Bauarbeiter, dann 1906 die Metallarbeiter ihre ersten Tarifverträge ab. Dann steigt die Zahl der Tarifverträge rasch an – von 3.000 im Jahre 1906 auf etwa 13.500 für 218.000 Betriebe mit etwa 2 Millionen Arbeitnehmern im Jahre 1913. Damit arbeiten 1913 16,5 Prozent aller in der Industrie Beschäftigten und 36,4 Prozent der Mitglieder der Freien Gewerkschaften zu tarifvertraglich festgelegten Bedingungen. 79,5 Prozent dieser Tarifverträge kommen ohne Streik zu Stande.

Die tarifpolitische Landschaft ist bunt. Betriebliche Tarifverträge stehen neben reichsweit gültigen, Tarifverträge für kleine Berufsgruppen neben denen für eine Riesenzahl ungelernter Arbeiter.

Dennoch es gibt ein paar Trends: Die Tarifverträge haben normalerweise eine Laufzeit von ein bis drei Jahren bei einer Kündigungsfrist von ein bis drei Monaten. Die größte Zahl der Verträge gilt nur für kleinere Gruppen von Betrieben und Arbeitnehmern. Tarifverträge lassen sich insbesondere in den Branchen bzw. Berufsgruppen durchsetzen, in denen relativ schwache Unternehmer gut organisierten Arbeitnehmern gegenüberstehen. Bei starken und straff organisierten Arbeitgebern, z. B. in der Schwerindustrie, gelingt es den Gewerkschaften vor 1914 nicht, organisatorisch und tarifpolitisch Fuß zu fassen, zumal gerade in diesen Bereichen Aussperrungen zur Schwächung der Gewerkschaften an der Tagesordnung sind. Insgesamt haben die Tarifverträge die soziale Besserstellung der Arbeiterschaft vorangetrieben und gesichert, zugleich aber spiegeln sie die Facharbeiter-Vorherrschaft in den Gewerkschaften.

Begünstigt von der wirtschaftlichen Entwicklung, steigt von 1890 bis 1913 der durchschnittliche Jahresverdienst von Arbeitnehmern in Industrie, Handel und Verkehr von nominal 650 auf 1.083 Mark. Berücksichtigt man den Anstieg der Lebenshaltungskosten im selben Zeitraum, so wachsen die realen durchschnittlichen Jahresverdienste (in Preisen von 1895) von 636 auf 834 Mark. Hinter diesen Durchschnittszahlen verbergen sich jedoch sehr unterschiedliche Entwicklungslinien. So stehen z. B. deutliche Einkommenszuwächse in der Druckindustrie weiterhin elenden Verhältnissen in der Textilindustrie gegenüber.

Im selben Zeitraum geht die Arbeitszeit in der Industrie weiter zurück. Beträgt sie 1890 noch durchschnittlich 11 Stunden pro Tag und 66 Stunden pro Woche, wird sie bis 1913 schrittweise auf 10 Stunden pro Tag und 54 bis 60 Stunden pro Woche verkürzt. Einzelne Firmen, z. B. die Carl-Zeiss-Werke in Jena und die Jalousie-Fabrik Freese führen bereits 1889 bzw.1892 freiwillig den Achtstundentag ein.

Dies illustriert, dass der Prozess der Arbeitszeitverkürzung von Branche zu Branche, von Betrieb zu Betrieb sehr unterschiedlich verläuft. Und wie bei den Löhnen wäre diese Entwicklung gewiss nicht eingetreten ohne die insgesamt gute wirtschaftliche Konjunktur, ohne die Steigerung der Produktivität und ohne die Kämpfe der Gewerkschaften.

Allerdings: Diese Erfolge werden von einer fortschreitenden Intensivierung bzw. Verdichtung der Arbeit begleitet. Zu nennen ist zum einen die Technisierung der Produktion, zum anderen die Rationalisierung des Arbeitsprozesses selbst. Mit Arbeitsteilung und Zeitvorgaben, also mit genauen Vorschriften über den Ablauf des Produktionsprozesses, rückt der Trend zur Rationalisierung in den Mittelpunkt der unternehmerischen Bemühungen, die Produktion zu steigern und die Arbeitskosten zu senken.

Den Gewerkschaften aller Richtungen ist klar, dass sie angesichts der rechtlich-politischen Benachteiligungen der Arbeitnehmerschaft weder mit Arbeitskampf noch Tarifvertrag allein eine dauerhafte Verbesserung der Lage würden erreichen können. Auch wegen der Einschränkungen des Koalitionsrechts, der Ungerechtigkeiten des Wahlrechts und wegen der drängenden sozialpolitischen Fragen sind die Gewerkschaften gezwungen, sich mit Problemen der Politik zu befassen.

1899 wird dies endlich auch erleichtert: Das Verbindungsverbot für politische Vereinigungen wird aufgehoben. Daraufhin ist z.B. die Tagesordnung des Frankfurter Kongresses der Freien Gewerkschaften 1899 bereits von sozialpolitischen Themen geprägt. Die Schwerpunkte: Ausbau und Sicherung der gewerkschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten, sprich Garantie der Koalitionsfreiheit und die Reform des Vereins- und Versammlungsrechts.

Sodann ist es eine unbestrittene Aufgabe der Gewerkschaften, Vorstellungen zur Verbesserung des Arbeiterschutzes zu entwickeln: Unfallschutz, Vorbeugung bzw. Anerkennung von Berufskrankheiten, besondere Schutzbestimmungen für Frauen, Jugendliche und Heimarbeiter(innen), Verbot der Kinderarbeit, Arbeitszeitregelung, Verbot unnötiger Nacht- und Feiertagsarbeit sowie die Verbesserung der Gewerbeinspektion – zu all diesen Problemen werden Beschlüsse und Gesetzesinitiativen vorgelegt. Außerdem geht es um die Verbesserung der bestehenden Reichsversicherungsgesetze sowie um die Übernahme von Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung durch das Reich.

Schließlich werden Ausbau bzw. Bildung von Mitsprachemöglichkeiten für die Arbeitnehmer bzw. die Gewerkschaften gefordert. Dabei wird an betriebliche Arbeiterausschüsse ebenso gedacht wie an die Gründung von Arbeiterkammern, die den Industrie- und Handelskammern bzw. den Handwerkskammern entsprechen sollen.

Immer wieder nehmen die Gewerkschaften auch zu Fragen der Zoll- und Steuerpolitik Stellung. Hier stehen oft die Belange eines bestimmten Gewerbezweiges im Mittelpunkt, etwa wenn besondere Belastungen einzelner Produkte – z. B. Zigarren, Branntwein – zu Verteuerung, Absatzeinbußen und damit Arbeitsplatzverlust zu führen drohen. Oder aber es geht allgemein um die Verhinderung von Abgabenerhöhungen, die zu einer Belastung der Arbeitnehmer als Verbraucher führen. Ziel all dieser Initiativen ist es, der Arbeitnehmerschaft ein menschenwürdiges Dasein zu ermöglichen.

Trotz weltanschaulicher und parteipolitischer Unterschiede zwischen den Richtungsgewerkschaften, zeichnen sich hier inhaltliche Annäherungen ab. Alle Gewerkschaften konzentrieren sich auf gesetzliche Verbesserungen, die auf dem Boden der bestehenden Verhältnisse realisierbar sind. Die Unterschiede, wie manche Dinge verbessert werden sollen, sind oft marginal. So wollen etwa die Freien Gewerkschaften die Mitspracheregelungen für Arbeitnehmerorganisationen durch  „reine” Arbeiterkammern erreichen, die Christlichen Gewerkschaften plädieren für Arbeitskammern, in denen Arbeitgeber und Arbeitnehmer geleichberechtigt vertreten sind. Auch hat es für die gewerkschaftliche Alltagsarbeit wenig Bedeutung, ob man sich programmatisch für den 10- oder den 8-Stundentag einsetzt, wenn man sich über die Notwendigkeit der Arbeitszeitverkürzung einig ist und der Kampf vor 1914 ohnehin um die Einführung des 10-Stundentags geht.

Die Liste der Themenbereiche, in denen die Richtungsgewerkschaften – jede für sich – im Prinzip ähnliche Forderungen erheben, reicht von A wie Arbeitszeitverkürzung bis zu Z wie Zollpolitik. Außerdem kommt es zu ersten gemeinsamen Aktionen, etwa bei den insbesondere von Frauen getragenen Heimarbeiterschutz-Kongressen seit 1904.

Heimarbeitertag am 12. Januar 1911 (pdf)

Die behutsamen gesetzlichen Verbesserungen insbesondere zu Gunsten von Kindern, Jugendlichen und Frauen sind zum einen dem zunehmenden Druck der Arbeiterbewegung geschuldet. Andrerseits hofft der Staat dadurch, die „rote Gefahr“ einzudämmen und den Zulauf zu SPD und Gewerkschaften zu stoppen.

So bescheiden die Erfolge der Gewerkschaften in der Frage einer gesetzlichen Arbeitszeitregelung sind, sie werden noch unterboten in den anderen zentralen Bereichen der Sozialreform: Weder die Ausdehnung des Koalitionsrechts noch die Abschaffung des preußischen Dreiklassenwahlrechts kann erreicht werden. Die Parlamentarisierung der Reichspolitik liegt in weiter Ferne, die öffentliche Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung bleiben ungelöste Probleme. Auf die Wirtschafts-, Finanz- und Handelspolitik haben die Gewerkschaften ohnehin keinen Einfluss. Politische Reformen im Sinne einer Demokratisierung des Kaiserreichs sind nicht in Sicht.

Dennoch: Massenzulauf und reale Erfolge vor allem in Arbeitskampf- und Tarifpolitik machen klar, dass die Gewerkschaften zu einem wichtigen Faktor der Wirtschafts-, Sozial- und auch Innenpolitik geworden sind, gegen den schwer Politik zu machen ist. Angesichts dieser Tatsache kann es für Staat und Arbeitgeber nur noch darum gehen, den gewerkschaftlichen Pragmatismus durch Zugeständnisse und durch gesellschaftliche Einbindung zu stärken. Der Erste Weltkrieg wird zum Prüfstein für diese Politik.

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