Quelle: AdsD
Gewerkschaften: Auf dem Weg zur Massenorganisation
Die schlechte wirtschaftliche Lage, verlorene Arbeitskämpfe, die ständige Bedrohung durch Polizei und Justiz sowie die zahlreichen Gesetzesvorlagen, mit denen das politische Handeln der Gewerkschaften eingeschränkt und kriminalisiert werden soll, bleiben nicht ohne Wirkung: Die Gewerkschaften sind verunsichert und versuchen, durch behutsames Taktieren Konflikte mit der Staatsmacht zu vermeiden. Bei den Mitgliedern stößt dies auf wenig Verständnis. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder sinkt von 290.000 im Jahre 1890 auf 215.000 im Jahre 1892.
Gleichzeitig setzen diese Probleme ein Umdenken bei den Gewerkschaften in Gang. In den zahlreichen, schweren Arbeitskämpfen wächst die Erkenntnis, dass Arbeiter zu ihrer Verteidigung eine reichsweite und berufsübergreifende Organisation brauchen, um die Macht der Arbeitgeber einzuschränken. Am 16./17. November 1890 zieht die Vorständekonferenz der Gewerkschaften in Berlin eine erste Konsequenz und gründet die Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands, ihr Vorsitzender wird Carl Legien.
Freie Gewerkschaften: Auf dem Weg zum Dachverband
Im März 1892 dann fasst der von der Generalkommission nach Halberstadt einberufene Gewerkschaftskongress einen richtungsweisenden Beschluss. Nach heftigen Debatten spricht sich die Mehrheit der Delegierten für die Bildung von Zentralverbänden aus. Die lokale Organisationsform und das Vertrauensmännersystem – beide Formen haben sich unter dem Sozialistengesetz bewährt – sollen aufgelöst werden. Als Argumente führen die Anhänger zentraler Organisationsstrukturen an: Größere Finanzkraft, geringerer Aufwand für die Verwaltung, einheitliche Agitation, bessere Verteilung der Risiken in Arbeitskämpfen und stärkeres Unterstützungswesen.
Die Anhänger lokaler Organisationsprinzipien sind enttäuscht und verlassen unter Protest den Kongress. In der Folgezeit organisieren sie ihre eigene Bewegung. Dabei kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen mit den zentralen Berufsgewerkschaften. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts verlieren die lokalen Verbände ihre Anziehungskraft, die Bewegung verschwindet von der politischen Bühne.
Entwurf eines Organisationsplans der Generalkommission, veröffentlicht im Correspondenzblatt am 25. April 1891 (pdf)
Resolution des Kongresses der Gewerkschaften Deutschlands im März 1892 in Halberstadt zur Organisationsfrage (pdf)
Berufs- oder Industrieverband?
Doch mit der Entscheidung von Halberstadt sind längst nicht alle Organisationsfragen beantwortet. Nicht entschieden etwa wird die Frage, ob Gewerkschaften Berufsverbände oder Industrieverbände werden sollen. Das ist vermutlich der unterschiedlichen Herkunft der Mitglieder geschuldet. Während die Handwerker in kleinen und mittleren Betrieben sich für Berufsverbände aussprechen, unterstützen die Arbeiter in Großbetrieben, die aus ganz unterschiedlichen Berufen kommen, die Idee eines Industrieverbandes. So haben sich etwa die Metallarbeiter- und der Holzarbeiter-Organisationen schon Anfang der 1890er vom Berufsverband in einen Industrieverband umgewandelt, mit Erfolg: Die Mitgliederzahlen steigen, insbesondere durch den Zulauf von ungelernten Arbeitskräften.
Dennoch können sich die Freien Gewerkschaften vor 1914 nicht zu einer Entscheidung durchringen. Und das, obwohl die Zahl der Gewerkschaften, die sich der Generalkommission anschließen, von über 70 auf 46 zurückgeht. Darunter sind traditionelle Berufsverbände ebenso wie neue Industrieverbände. Doch die handwerklich geprägten Organisationen, wie die der Buchbinder, Buchdrucker, Böttcher, Hutmacher und Kupferschmiede geben den Ton an. Dabei sind die berufsübergreifenden Organisationen in den aufstrebenden Industriebereichen die stärksten Verbände. Das zeigt ein Blick auf die Mitgliederstatistik des Jahres 1914. An der Spitze steht der Deutsche Metallarbeiter-Verband mit über 500.000 Mitgliedern, gefolgt von den Verbänden der Bauarbeiter, der Bergleute, der Holzarbeiter und der Textilarbeiter.
Großen Zulaufs erfreut sich auch der Fabrikarbeiterverband, der an- und ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen aus fast 100 unterschiedlichen Berufszweigen vertritt. Die Verbände der Bauhilfsarbeiter und der Handels- und Transportarbeiter nehmen ebenfalls ungelernte Arbeiter und Arbeiterinnen als Mitglieder auf. Die Mitgliederzahlen in den handwerklich geprägten Verbänden schwankt enorm: der Verband der Notenstecher hat wenige 100, der Verband der Buchdrucker über 50.000 Mitglieder.
Um die Jahrtausendwende schwindet die Bedeutung der reinen Berufsverbände und Facharbeitergewerkschaften weiter, aus mehreren Gründen: Die Facharbeiter, lange das Rückgrat der Gewerkschaften, verlieren in den Betrieben an Einfluss, der Anteil von ungelernten Arbeitskräften steigt. Und die wirtschaftliche Bedeutung mancher Gewerbezweige, etwa der Glacéhandschuhmacher, der Hutmacher oder der Schiffszimmerer, geht zurück.
Die Entscheidung der Freien Gewerkschaften, einen berufsübergreifenden Zentralverband zu gründen, in dem ungelernte und gelernte Arbeitskräfte, Männer und Frauen zusammen organisiert sind, ist angesichts dieser Veränderungen in der Arbeitswelt daher die einzig richtige, zukunftsweisende Antwort.
Klärung der Organisationsprinzipien
Bereits vor dem Ersten Weltkrieg bilden sich in den Freien Gewerkschaften Organisationsprinzipien und -strukturen heraus, die bis in die Gegenwart Bestand haben: Arbeiterinnen und Arbeiter werden Mitglied in ihrem Einzelverband, der Einzelverband ist Mitglied des Dachverbands. Die örtlichen, regionalen und zentralen Vorstände werden von Delegierten der jeweiligen Ebene demokratisch gewählt, die Vorstände müssen regelmäßig Rechenschaft ablegen. Der Mitgliedsbeitrag wird in den Zahlstellen der Einzelverbände vor Ort entrichtet, über Streikmaßnahmen entscheidet der Zentralvorstand.
Die Verwaltung der Gewerkschaften
In den Jahren von 1900 bis 1914 wird die Verwaltung der Gewerkschaften zügig ausgebaut, die Zahl der Angestellten bei den gewerkschaftlichen Zentralverbänden wächst von 269 auf 2.867. Die Schattenseite dieser Entwicklung ist jedoch gerade im Lichte des Lokalismus-Streits nicht zu übersehen: Durch das mehrstufige Delegationsprinzip entfernt sich die Führungsspitze immer weiter von den Belegschaften im Betrieb. Bürokratische Entscheidungsprozesse – etwa wenn es um die Streikunterstützung geht – fördern die Passivität der Mitglieder, spontane Streikaktionen gehen an den Gewerkschaften vorbei.
All diese Probleme werden bereits vor der Jahrhundertwende in der Gewerkschaftspresse diskutiert. Konsequenzen werden allerdings nicht gezogen. Zu einer Vertrauenskrise zwischen Mitgliedern und Führung kommt es dennoch nicht – noch nicht.
Im Gegenteil: Weite Kreise der Arbeiterschaft sind mit der Politik der Gewerkschaften offensichtlich zufrieden, die Mitgliederzahlen steigen sprunghaft. Dazu tragen bei die seit 1895 gute wirtschaftliche Entwicklung und die Verbesserungen, die die Gewerkschaften durchsetzen können. In der Statistik schlägt sich das wie folgt nieder: Die Mitgliederzahl der sozialdemokratisch orientierten Freien Gewerkschaften steigt von etwa 215.000 im Jahre 1892, auf 1,1 Millionen im Jahr 1904 und schließlich auf 2,5 Millionen im letzten Jahr vor dem Ersten Weltkrieg.
Während die Freien Gewerkschaften ab 1892 kräftig an Mitgliedern zulegen, verlieren die liberalen Gewerkvereine an Boden. Und das, obwohl sie nicht vom Sozialistengesetz betroffen sind. In den Jahren 1891 und 1992 sinkt die Zahl der Mitglieder von 65.500 auf 45.000 ab, steigt dann langsam wieder an und erreicht mit 106.600 im Jahr 1913 ihren Höchststand. Vom Trend hin zur Massenbewegung können die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine nur in einem sehr begrenzten Ausmaß profitieren.
Ursache für die schlechte Mitgliederentwicklung sind heftige interne Auseinandersetzungen über politische Inhalte und die Organisationsstruktur. Größere Verbände, wie die der Maschinenbauer und Fabrikarbeiter, fühlen sich im Zentralrat des Dachverbandes nicht angemessen vertreten und werden bei Entscheidungen immer wieder von den kleinen Organisationen überstimmt. Das führt zu langen und heftiger Kontroversen. Erst 1889 verständigt man sich darauf, dass die Verbände entsprechend ihrer Größe im Zentralrat vertreten sein sollen.
Mit dieser Reform einher gehen Bemühungen, den berufsübergreifenden Zusammenschluss kleinerer Verbände zu fördern. Doch getreu den Ideen des Gründungsvaters Max Hirsch, halten die Verbände am Berufsprinzip fest. Die rasch wachsende Gruppe der un- und angelernten Arbeiter ist von den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen ausgeschlossen.
Umstritten ist auch die Haltung zum Streik. Zwar bekennen sich die Gewerkvereine zum Streik als letztes Mittel der Interessenvertretung und sind auch immer wieder in Arbeitskämpfe verwickelt. Von einer offensiven Streikpolitik kann jedoch keine Rede sein. Vor allem in Düsseldorf regt sich Widerstand gegen die Streikzurückhaltung, für die Max Hirsch bis zu seinem Tode im Jahr 1905 eintritt. Sein Gegner in dieser Grundsatzfrage der Gewerkschaftspolitik ist Anton Erkelenz, der später in die Gewerkvereins-Führung aufrücken wird.
Diese internen Auseinandersetzungen schaden dem Ruf der Gewerkvereine. Hinzukommt, dass auch die politisch-programmatische Linie unklar ist. Zwar bekennen sich die Gewerkvereine in ihren 1907 verabschiedeten „Prinzipiellen Leitsätzen” zur parteipolitischen und religiösen Neutralität, doch ihre Nähe zum Linksliberalismus ist nicht zu übersehen. Sie setzen sich, wie die Freien Gewerkschaften, für soziale Reformen ein, und wollen gegenüber der liberalen Partei loyal bleiben. Ein Spagat, der nicht dazu beiträgt, ihre Glaubwürdigkeit zu stärken.
Auf der Suche nach einem klaren Profil, grenzen sich die Gewerkvereine scharf von der Sozialdemokratie ab und schreiben die nationalen Ideale auf ihre Fahne. Als „volkstümlich-freiheitlich” bezeichnet Karl Goldschmidt, von 1907 bis 1916 Vorsitzender der Gewerkvereine, seine Organisation und Anton Erkelenz gibt ihr 1910 das Etikett „freiheitlich-national”.
Doch die Gewerkvereine sind längst nicht mehr die einzige Gewerkschaft, die sich den nationalen Ideen verschrieben hat. Auch die Christlichen Gewerkschaften bekennen sich dazu – und sind oft entschiedener und glaubwürdiger als die Hirsch-Duncker-Gewerkvereine.
Mitte der 1890er Jahre entwickelt sich eine dritte Gewerkschaftsbewegung. Begünstigt von der guten Konjunktur rücken die Christlichen Gewerkschaften bald zum zweitstärksten Kraft auf. Das Motiv für die Gründung: Kirchlich gebundene Arbeiter fühlen sich von der „gottlosen“ Sozialdemokratie und den Freien Gewerkschaften abgestoßen.
Die ersten Christlichen Gewerkschaften entstehen in den Gegenden Deutschlands, in denen es ein gut ausgebildetes katholisches Arbeitervereinswesen gibt. Dies gilt insbesondere für den Aachener Raum, das niederrheinische Industriegebiet (M.-Gladbach, Krefeld), das Ruhr- und das Saarrevier sowie die süddeutschen Gebiete um München und Stuttgart. Die Initiative zu den Gründungsversammlungen Christlicher Gewerkschaften geht oftmals von Geistlichen aus, zumindest aber stehen diese als Hauptredner zur Verfügung, allen voran die Mitarbeiter des „Volksvereins für das katholische Deutschland”. Wegweisend für dieses Engagement der katholischen Kirche ist die Enzyklika „Rerum novarum”, in der sich Papst Leo XIII. 1891 für Sozialreform aus christlicher Nächstenliebe und für die Gründung christlicher Arbeitervereine ausgesprochen hat.
Enzyklika „Rerum Novarum“ von Papst Leo XIII. vom 15. Mai 1891 (pdf)
Vorbild bei den meisten Gründungen von Christlichen Gewerkschaften ist der für den Oberbergamtsbezirk Dortmund zuständige „Gewerkverein christlicher Bergarbeiter”, der im Oktober 1894 mit Beteiligung des Bergmannes August Brust geschaffen wird. Insbesondere § 2 des Statuts gilt als richtungsweisend: „Zweck des Gewerkvereins ist die Hebung der moralischen und sozialen Lage der Bergarbeiter auf christlicher und gesetzlicher Grundlage und Anbahnung und Erhaltung einer friedlichen Übereinkunft zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern.” Und weiter heißt es in dem Statut: „Der Verein steht treu zu Kaiser und Reich und schließt die Erörterung konfessioneller und politischer Parteiangelegenheiten aus”. Mit dem „Eintritt in den Gewerkverein [. . .] bekennt sich jeder als Gegner der sozialdemokratischen Grundsätze und Bestrebungen”.
In den folgenden Jahren wird eine Reihe von Christlichen Gewerkschaften auf lokaler, allenfalls regionaler Ebene gegründet. Doch schon bald sucht man den richtungspolitischen Schulterschluss. Obwohl es noch keinen Zentralverband gibt, treffen sich die Christlichen Gewerkschaften Pfingsten (21./22. Mai) 1899 in Mainz zu ihrem ersten Kongress und verabschieden die „Mainzer Leitsätze” als Grundsatzprogramm. Darin verpflichten sich die Christlichen Gewerkschaften zu den Prinzipien der Interkonfessionalität und der parteipolitischen Neutralität, Streiks akzeptieren sie nur mit großen Vorbehalten. Die Begründung: Es sei „nicht zu vergessen, dass Arbeiter und Unternehmer gemeinsame Interessen haben” – nämlich als Erzeuger von Gütern gegenüber den Verbrauchern. Darum solle „die gesamte Wirksamkeit der Gewerkschaften von versöhnlichem Geiste durchweht und getragen sein. Die Forderungen müssen maßvoll sein, aber fest und entschieden vertreten werden. Der Ausstand darf nur als letztes Mittel und wenn Erfolg verheißend angewandt werden”.
Die “Mainzer Leitsätze” der Christlichen Gewerkschaften vom Mai 1899
Die Kongresse in Mainz und ein Jahr später in Frankfurt beflügeln die Entwicklung der Christlichen Gewerkschaften. Es kommt zu weiteren Neugründungen auf lokaler und regionaler Ebene, die ersten Zentralverbände entstehen, parallel dazu wird bereits am Aufbau eines Gesamtverbandes gearbeitet. Folgende Daten illustrieren diese Entwicklung am Besten: Bereits 1899 bilden sich der Christlich-soziale Metallarbeiterverband, der Zentralverband christlicher Holzarbeiter, der Verband christlicher Tabak- und Zigarrenarbeiter Deutschlands und der Zentralverband christlicher Bauarbeiter. 1900, im Jahr nach dem Mainzer Kongress, werden der Verband christlicher Schuh- und Lederarbeiter Deutschlands, der Verband christlicher Schneider und Schneiderinnen und verwandter Berufe sowie der Christlich-soziale Verband der nicht-gewerblichen Arbeiter und verschiedener Berufe Deutschlands gegründet.
Die Hauptstützen des Gesamtverbandes in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg sind jedoch die Verbände der Berg- und der Textilarbeiter, die 1905 alleine 50 Prozent, 1910 noch immer 42 Prozent aller Mitglieder des Gesamtverbandes zählen. Im Textilarbeiterverband sind 1905 60 Prozent, 1910 46 Prozent aller christlichen Gewerkschafter organisiert.
Obgleich die Bildung von Zentralverbänden noch nicht abgeschlossen ist, wird bereits 1899 in Mainz ein Zentralausschuss der Christlichen Gewerkschaftsbewegung gebildet, der aber mangels Geld zunächst nicht arbeitsfähig ist. Zwei Jahre später dann der nächste Schritt: Auf dem Krefelder Kongress 1901 gründen 23 Organisationen mit etwa 84.000 Mitgliedern den Gesamtverband, verabschieden ein Statut und legen damit ihre Organisationsstrukturen fest. Danach bekommen die Einzelgewerkschaften zentrale Generalversammlungen, die den Vorstand wählen; die nächsten Ebenen sind die Bezirks- oder Gauverbände und schließlich die örtlichen Zahlstellen, die in größeren Städten zu Ortskartellen zusammengeschlossen sind. Diese Ortskartelle verstehen sich als lokale Vertretung des Gesamtverbandes und sorgen für das einheitliche Vorgehen der Einzelverbände in Fragen der Agitation sowie bei Wahlen zu den Vertretungsgremien von Krankenkassen und Gewerbegerichten.
Auch publizistisch werden die meisten Zentralverbände und der Gesamtverband schnell aktiv. Ab April 1901 erscheinen die „Mitteilungen des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften Deutschlands”, die 1905 in „Zentralblatt der christlichen Gewerkschaften Deutschlands” umbenannt werden. Für Einzelverbände, die kein eigenes Presseorgan unterhalten können, wird ab 1. Oktober 1901 das „Christliche Gewerkschaftsblatt” herausgegeben. Verantwortlich dafür zeichnet Adam Stegerwald, Vorsitzender des Verbandes christlicher Holzarbeiter und späterer Generalsekretär des Gesamtverbandes.
Der Aufbau der Christlichen Gewerkschaften geht rasch voran und ist 1906 mehr oder weniger abgeschlossen. Sie verfügen über ein vielfältiges Pressewesen, über zahlreiche Gewerkschaftshäuser, über Gewerkschaftsbeamte und über ein ausgebautes Unterstützungswesen. Um das zu finanzieren, müssen die Mitgliederbeiträge regelmäßig erhöht werden. Dennoch steigt die Zahl der Mitglieder, von einigen kurzfristigen Rückschlägen abgesehen, kontinuierlich an. Und obwohl sie den Berufsverband bevorzugen, treiben die Christlichen Gewerkschaften auch die Entwicklung von Industrieverbänden voran. Allerdings bleibt auch hier die Berufsgewerkschaft die vorherrschende Organisationsform der Vorkriegszeit.
Der Durchbruch zur Massenbewegung ist geschafft, dennoch sind die Gewerkschaften weder flächendeckend noch in allen Berufszweigen vertreten. Angesichts des Koalitionsverbotes unter anderem für Landarbeiter, Dienstboten und staatliche Eisenbahnarbeiter bleiben diese Zweige ohne gewerkschaftliche Interessensvertretung. Heimarbeiter und -arbeiterinnen sind schwer zu organisieren, weil sie sich für „selbstständig“ halten.
Großen Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten der Gewerkschaften hat auch die Betriebsgröße. Während in kleinen Handwerksbetrieben die Werbung von Mitgliedern meist ohne große Probleme möglich ist, ziehen die Arbeitgeber in Großbetrieben alle Register: Mit „Schwarzen Listen“ verbreiten sie Angst, mit sozialen Wohltaten wie Werkswohnungen, werkseigenen Läden und Krankenbetreuung versuchen sie Gewerkschaften überflüssig zu machen. Sie unterstützen „wirtschaftsfriedliche Werkvereine“, die im Konfliktfall Streikbrecher zur Verfügung stellen. Diese Politik wirkt: Von den 70.000 Arbeitern bei Krupp in Essen sind 1910 nur 3.000 (d. h. 4,3 Prozent) gewerkschaftlich organisiert, bei der Ludwigshafener BASF sind drei Viertel der Gesamtbelegschaft Mitglied eines wirtschaftsfriedlichen – „gelben” – Verbandes. Im Jahre 1910 schließen sich die „Gelben” zu einem Bund zusammen, aus dem 1913 der „Hauptausschuss nationaler Arbeiter- und Berufsverbände” hervorgeht. 1913 gehören diesem Verband insgesamt 173.000 Mitglieder an.
Auch in den von der Schwerindustrie geprägten Regionen an Rhein und Ruhr, in Oberschlesien und an der Saar wird das Vordringen der Gewerkschaften durch autoritär-patriarchalische Unternehmerpersönlichkeiten im Bündnis mit regionaler Verwaltung und Kirche behindert. Diese Arbeitgeberstrategie trifft keineswegs nur die als rücksichtslose Klassenkämpfer verschrienen Freien Gewerkschaften, sondern auch die liberalen und christlichen Konkurrenzorganisationen.
Überproportional stark sind die Gewerkschaften in Städten mit aufstrebenden Industriebezirken, so z. B. in Augsburg, Berlin, Bremen, Hamburg, Hannover und Nürnberg sowie in den Städten Mitteldeutschlands. Auffallend schwach ist ihre Position in vorwiegend landwirtschaftlich genutzten Gebieten wie Ost- und Westpreußen. Dies ist nicht nur der Beschränkungen des Koalitionsrechts geschuldet, sondern auch der Politik der Großgrundbesitzer, die ähnlich wie die industriellen Unternehmer massive soziale Kontrolle ausüben.
Auch die hohe Mobilität der Arbeitskräfte, nicht nur von Wanderarbeitern, erschwert die Werbung und die dauerhafte Bindung von Mitgliedern. So treten z. B. zwischen 1892 und 1913 2,1 Millionen Arbeiter und Arbeiterinnen in den Deutschen Metallarbeiter-Verband ein, aber 1,6 Millionen auch wieder aus. Allein die Verwaltung der ständig wachsenden Mitgliederkartei macht im Übrigen den Aufbau eines Apparates mit fest besoldeten Funktionären nötig.
Große Probleme bereitet den Gewerkschaften die Werbung von Frauen und ungelernten Arbeitskräften. Die von meist gut ausgebildeten, selbstbewussten männlichen Facharbeitern geprägten Gewerkschaften tun sich schwer, in die Kreise der ungelernten Arbeiterschaft vorzudringen. Diese wiederum fühlen sich vielfach von den Gewerkschaften nicht ausreichend vertreten. Auch die Erfolge bei der Mitgliederwerbung von Frauen sind bescheiden, obwohl eine Berufszählung aus dem Jahre 1907 zeigt, dass der Frauenanteil an den Erwerbstätigen inzwischen auf 35,8 Prozent gestiegen ist.
Gründe, warum Frauen schwer für die Gewerkschaften zu gewinnen sind, gibt es viele. Da sind zum einen die vereinsrechtlichen Bestimmungen, die für Frauen erst 1908 gelockert werden. Zum anderen betrachten viele Frauen Erwerbstätigkeit nur als eine vorübergehende Phase ihres Lebens. Sie sehen ihre Hauptaufgabe darin, die Familienpflichten zu erfüllen. Beides miteinander zu verbinden, stellt eine extreme Belastung dar. Auf die Unterstützung ihrer Männer können sie nicht zählen, obwohl Hausarbeit in der damaligen Zeit schwer ist und viel Zeit beansprucht. Obst und Gemüse wird, wenn möglich, selbst angebaut, auf jeden Fall aber selbst verarbeitet, die Kleidung für die Familie wird selbst genäht. Waschen und Hausputz verlangen ganztägigen Einsatz.
Frauen sind stärker als Männer religiös gebunden und geprägt. Viele empfinden die Interessenpolitik, wie sie die von Männern dominierten Gewerkschaften vertreten, als aggressiv. Und schließlich: Die Löhne der vielfach ungelernten Arbeiterinnen sind niedrig und als Zusatzeinkommen für die Familie meist fest verplant. Viele können es sich schlicht nicht leisten, die relativ hohen Gewerkschaftsbeiträge zu zahlen.
Bereits 1890 wird von Emma Ihrer eine Frauenzeitung „Die Arbeiterin“ gegründet. Als diese 1892 in „Die Gleichheit. Zeitschrift für die Interessen der Arbeiterinnen“ umbenannt wird, geht die Schriftleitung an Clara Zetkin über. Die Zeitschrift wird zum wichtigsten theoretischen Organ der sozialdemokratischen Frauenpolitik.
Der erste Kongress der Freien Gewerkschaften 1892 in Halberstadt sendet ein klares Signal an seine Mitgliedsverbände: Die Werbung von Frauen sei ein „Gebot der Selbsterhaltung”. Daher sollen, wo nötig, die Statuten geändert werden, um die Aufnahme von Frauen zu ermöglichen. Die Gründung einer eigenständigen Frauenorganisation steht nicht zur Diskussion.
Die Wirkung dieses Beschlusses ist begrenzt. Die Mitgliederwerbung unter Frauen gelingt am ehesten in den Verbänden, in denen Frauen und Männer etwa die gleiche Qualifikation haben, z. B. bei den Buchbindern, den Buchdruckereihilfsarbeiter, den Gold- und Silberarbeiter und den Tabakarbeitern. Weniger erfolgreich ist sie in den Berufszweigen bzw. Branchen, in denen die Männer über eine bessere Ausbildung als die Frauen verfügen, etwa in der Textil- und der Bekleidungsindustrie.
Frauen in den Vorständen der Gewerkschaften sind die Ausnahme. Im Gewerkschaftsausschuss, in dem die Vorsitzenden der Einzelgewerkschaften und die Generalkommission zusammensitzen, sind bis 1918 nur sechs Frauen vertreten: Wilhelmine Kähler, Sophie Teske, Emma Ihrer, Paula Thiede, Ida Altmann und Ida Baar. Auf dem Halberstadter Kongress 1892 wird als einzige Frau Wilhelmine Kähler vom Verband der Fabrik- und Handarbeiterinnen in die Generalkommission gewählt. Emma Ihrer, die 1885 in Berlin den „Verein zur Wahrung der Interessen der Arbeiterinnen” gegründet hat, fällt durch. Und auch Paula Thiede, die als Vorsitzende des „Verbandes der Buch- und Steindruckerei-Hilfsarbeiter und -Arbeiterinnen Deutschlands“ als erste Frau eine gemischt-geschlechtliche Gewerkschaft führt, wird trotz mehrerer Versuche nicht in die Generalkommission gewählt. Von 1899 bis 1905 sitzt keine Frau in der Generalkommission.
1905 beschließt der 5. Gewerkschaftskongress erneut, die Frauenwerbung zu verstärken und ein System von weiblichen Vertrauenspersonen für diese Arbeit aufzubauen. Im selben Jahr wird zudem ein Arbeiterinnensekretariat geschaffen, das zunächst von Ida Altmann, dann, ab März 1909, von Gertrud Hanna geleitet wird. Doch die männliche Vorherrschaft auf Kongressen und in den Vorstandsetagen der Gewerkschaften ist ungebrochen.
All dies trägt dazu bei, dass der Frauenanteil in den Freien Gewerkschaften nur sehr langsam steigt – von rund zwei Prozent im Jahre 1892 auf 3,3 Prozent im Jahre 1900 und schließlich auf 8,8 Prozent im Jahre 1913.
Auch bei den Christlichen Gewerkschaften bleibt der Anteil der Frauen an der Mitgliedschaft deutlich hinter dem Grad der Erwerbstätigkeit zurück. Er ist aber fast gleichauf mit dem Anteil von Frauen in den Freie Gewerkschaften. Er steigt von 5,8 Prozent im Jahre 1903 langsam und mit einigen Schwankungen auf 8,1 Prozent im Jahr 1913. Verwunderlich ist die Höhe des Frauenanteils allenfalls insofern, als die Christlichen Gewerkschaften kaum eine Gelegenheit auslassen, um die Frauen auf ihre „wahre” Rolle als Mutter hinzuweisen und sich immer wieder gegen eine außerhäusliche Berufstätigkeit von Frauen aussprechen. Aus ihrer Sicht sind Familienaufgaben und Erwerbstätigkeit nur in Heimarbeit zu verwirklichen.
Auch in den Christlichen Gewerkschaften gelangen nur wenige Frauen in Führungspositionen. Zu nennen ist vor allem Margarete Behm, die den Gewerkverein der Heimarbeiterinnen Deutschlands gründet und leitet. Unterstützt wird sie von Margarete Wolff, die 1905 im Zehlendorfer Ortsverein der Heimarbeiterinnen das Amt der ehrenamtlichen Kassenführerin übernimmt, dann als Sekretärin in der Verwaltung der Berliner Organisation arbeitet und 1909 Geschäftsführerin und damit engste Mitarbeiterin von M. Behm wird. Eine wichtige Funktion hat auch Else Roeske (nach der Eheschließung mit Josef Ulbrich 1914: Else Ulbrich), die nach Schulung durch M. Behm in den Vorstand des Verbandes eintritt. Und zu denken ist an Clara Mleinek, die – nachdem sie seit 1908 in der Verwaltung des Verbandes der weiblichen Handels- und Büroangestellten gearbeitet hat – ab 1921 in der Geschäftsführung des christlich-nationalen Deutschen Gewerkschaftsbundes tätig ist.
Die Zahl der Angestellten in den Betrieben wächst und diese gehen schon sehr früh ihren eigenen Weg. Sie fühlen sich der Unternehmensführung nah und grenzen sich von den Arbeitern ab. Ob Büroangestellter oder Ladendiener, ob Techniker oder Kaufmann – sie alle beziehen ihr Selbstbewusstsein aus der Position als „Nicht-Arbeiter”. Sie entwickeln ein ganz eigenes Selbst- und Standesbewusstsein und schaffen sich ihre „eigenen“ Organisationen mit stark nationaler und bürgerlicher Grundorientierung.
Durch die staatliche Einrichtung einer gesonderten Versicherung für Angestellte im Jahre 1911 wird dieses Statusbewusstsein noch gestärkt. Eine Mitgliedschaft in proletarischen Massenorganisationen kommt für sie daher nicht in Frage. Hinzukommt: die Angestellten werden im Laufe des 20. Jahrhunderts zunehmend „weiblicher“, so dass hier geschlechtsspezifische und statusbezogene Vorbehalte die Gewerkschaftsentwicklung hemmen.
Die Freien Gewerkschaften gründen 1897 einen Handlungsgehilfenverband, doch große Erfolge kann er nicht verzeichnen. Die Angestellten ziehen, wenn sie sich überhaupt organisieren, die nationalistischen Verbände vor. Die „bürgerlichen” Angestelltenverbände sind in der Mitgliederwerbung jedenfalls erfolgreicher als die gewerkschaftlich orientierten.
Das zeigt ein Blick auf die Mitgliederzahlen: Als 1897 der Zentralverband der Angestellten (ZdA) mit rund 522 Mitgliedern gegründet wird, verzeichnen der Verein für Handlungs-Commis von 1858 (Sitz Hamburg) bereits 54.000, der Verband Deutscher Handlungsgehilfen zu Leipzig 47.000 und der 1894 gegründete Deutschnationale Handlungsgehilfen-Verband (DHV) 7.700 Mitglieder.
Bis zum Jahre 1913 verändert sich das Zahlenverhältnis deutlich zu Gunsten des DHV, der nun 148.000 Mitglieder zählt. Der Verein für Handlungs-Commis kommt auf 127.0 00 und der Leipziger Verband auf 102.000 Mitglieder, der Zentralverband der Freien Gewerkschaften jedoch nur auf 24.800 Mitglieder. Diese Zahlen belegen das ausgeprägte Standesbewusstsein der Angestellten und ihre politische Orientierung: Die nationalistische und antisemitische Propaganda des DHV fällt bei Angestellten offensichtlich auf fruchtbaren Boden – ein Problem, das in der Weimarer Republik noch von Brisanz sein wird.
Je größer die Organisationen, desto größer natürlich auch der Verwaltungsaufwand. Die Aufgaben der Gewerkschaften werden vielfältiger und der Trend zur Zentralisierung der Entscheidungsbefugnisse verstärkt sich. Das verändert das Gesicht der Gewerkschaften, „Gewerkschaftsapparate” entstehen, die „Gewerkschaftsbürokratie” hält Einzug. Die wachsende Zahl von Gewerkschaftshäusern symbolisiert diesen Prozess der „Etablierung“ der Gewerkschaften.
Das bleibt nicht ohne Auswirkung auf das Verhältnis zwischen Mitgliedern und besoldeter Gewerkschaftsführung. Der Beruf des Gewerkschaftsfunktionärs entsteht, der im Laufe der Zeit eigene „Standesinteressen” entwickelt. Auch das trägt dazu bei, dass die Gewerkschaftsangestellten durch mannigfache Aufgaben – z. B. als Vertreter und Beisitzer in Schieds- und Selbstverwaltungsgremien – in die Gesellschaft des Kaiserreichs hineinwachsen. Viele betrachten Konflikte innerhalb der gewerkschaftlichen Organisationen als Gefährdung ihres Lebenswerks und ihrer Lebensgrundlage. Das Vertrauen zwischen Gewerkschaftsführung und Mitgliedern bröckelt. Diese wachsende Vertrauenskrise werden die Gewerkschaften im Ersten Weltkrieg und in der Revolution 1918/19 deutlich zu spüren bekommen.
Keine Frage, die Mitgliederentwicklung in diesen Jahren ist beeindruckend, doch die Risse, durch die Arbeiterbewegung sind tief. Die Gewerkschaftsbewegung ist gespalten, die damit verbundene Konkurrenz bindet Energien, die anderweitig besser hätten genutzt werden können. Allerdings ist die Bildung von Richtungsgewerkschaften nicht nur nachteilig. Dank klarer weltanschaulicher und parteipolitischer Bindungen gewinnen nicht-sozialdemokratische Gewerkschaften in den Kreisen der Arbeiterschaft Freunde, die Gewerkschaften eigentlich ablehnend gegenüberstehen.
Die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung ist nicht „gemacht”. Sie entspringt vielmehr den unterschiedlichen sozio-kulturellen Milieus, aus denen die Arbeiter kommen und die Leben und Bewusstsein der jeweiligen Arbeiterkreise prägen. So sind die Freien Gewerkschaften Teil des „sozialdemokratischen Milieus”, das durch die SPD, durch Unterstützungskassen und Genossenschaften, durch die entsprechende Presse, Bibliotheken, kulturelle Verbände und durch gemeinsame Feiern zusammengehalten wird. Die Christlichen Gewerkschaften haben ihren Rückhalt in der katholischen Arbeiterschaft, die politisch mehrheitlich der Zentrums-Partei zuneigt und in der „eigenen” Versicherung und den „eigenen” Genossenschaften, in der katholischen Presse, in den kulturellen Angeboten von Arbeiterverein und/oder Kirche ihre weltanschaulich-politische Heimat finden.
Die unterschiedlichen Milieus der Arbeiterschaft lassen sich nicht nur an den konkurrierenden Organisationen ablesen, sie prägen auch das alltägliche Leben. Sie beeinflussen die politischen Wahlentscheidungen, das Wohnen und Einkaufen, die Wahl der Versicherung gegen Lebensrisiken, die Lese- und Festkultur, die Teilnahme an den Feiern zum 1. Mai oder an Fronleichnams-Prozessionen und Wallfahrten. Die Ausgrenzung der Arbeiterschaft aus der Gesellschaft des Kaiserreichs fördert die Bildung dieser Milieus und bewirkt gleichzeitig eine Abgrenzung und Vereinheitlichung innerhalb der Milieus gegen Einflüsse von außen.
Die Christlichen Gewerkschaften sind wegen ihres hohen Anteils an katholischen Mitgliedern Teil des katholischen Sozialmilieus. Gleichzeitig setzen sie in ihrem Programm auf Interkonfessionalität und eine „nationale“ Ausrichtung. Damit überschreiten sie die Grenzen des katholischen sozio-kulturellen Milieus. Sie pflegen enge Verbindungen zu den bürgerlichen Parteien und werden zum Mittelpunkt einer christlich-nationalen Sammlungsbewegung, deren augenfälligster Ausdruck die Deutschen Arbeiterkongresse sind. Einigendes Band dieser Kongresse – erstmals abgehalten 1903 – ist, neben sozialen und religiösen Aspekten, die bewusst anti-sozialdemokratische Programmatik und ein manifester Nationalismus. Die Bedeutung dieser Sammelbewegung der nicht-sozialdemokratischen Arbeiterorganisationen zeigen die Mitgliederzahl der Verbände, die auf diesen Kongressen vertreten sind: Sie liegen 1903 bei 620.000, 1907 bei 1.000.000, 1913 bei 1.400.000 und 1917 schließlich bei 1.500.000.
Die „Deutschen Arbeiterkongresse” folgen dem Beispiel der Christlichen Gewerkschaften und setzen auf parteipolitische Offenheit für alle nicht-sozialdemokratischen Parteien. Sie werden zum Vorläufer des 1919 gegründeten Deutsch(-Demokratisch)en Gewerkschaftsbundes.
Die weltanschaulich-politische Spaltung der Arbeiterschaft setzt sich auch auf anderen Ebenen fort. Das gilt z. B. für die Zusammenarbeit von Gewerkschafts- und Genossenschaftsbewegung. Schon in den 1890er Jahren erkennen die Gewerkschaften, dass die von Hermann Schulze-Delitzsch geprägte Genossenschaftsbewegung ein wichtiger Partner ist, um bessere Lebensbedingungen für die Arbeiterschaft zu schaffen. Trotzdem kommt es auch hier zur Spaltung.
Die in Freien Gewerkschaften organisierten Mitglieder des „Allgemeinen Genossenschaftsverbandes” spalten sich 1903 ab und gründen den „Zentralverband deutscher Konsumvereine”. Auf dem Kölner Gewerkschaftskongress 1905 wirbt Adolf von Elm, der 1893 in Hamburg die Großeinkaufsgesellschaft deutscher Konsumvereine gegründet hat, in seinem Referat über „Gewerkschaften und Genossenschaften” für die Zusammenarbeit beider Bewegungen, seien doch die Genossenschaften eine „Waffe im Kampf der Arbeit gegen das Kapital”. Die Gewerkschafter, so beschließt es der Kongress, sollen den Genossenschaften beitreten.
Die Konsumgenossenschaften entwickeln sich gut – auch dank der gewerkschaftlichen Unterstützung. Sie gründen bzw. übernehmen eine Reihe von Eigenbetrieben, z. B. zur Herstellung von Reinigungs- und von Lebensmitteln. 1911 gibt es 1.142 lokale Genossenschaften mit 1,3 Millionen Mitgliedern und einem Umsatz von 335 Millionen Mark. Zum 1. Juli 1913 gründen Konsumgenossenschaften und Freie Gewerkschaften zusammen die „Volksfürsorge”-Versicherung, die ihre Blüte in der Weimarer Zeit erleben soll.
Auch die Hirsch‑Dunckerschen Gewerkvereine und die Christlichen Gewerkschaften arbeiten mit „eigenen” (Konsum-) Genossenschaftsbewegungen zusammen, die ebenfalls florieren. Ein Beispiel: 1913 gründen die Christlichen Gewerkschaften die Deutsche Volksversicherungs AG.
Auch auf der internationalen Ebene verfestigt sich die Spaltung der Gewerkschaftsbewegung. Seit den 1890er Jahren entwickelt sich – zunächst auf berufsverbandlicher Ebene – ein Netz von Kontakten: Delegierte besuchen die Kongresse von ausländischen Partner-Organisationen, internationale Berufs- oder Gewerbekonferenzen werden veranstaltet. Schließlich werden erste internationale Berufsvereinigungen – nach sozialdemokratischen und christlichen Organisationen getrennt – gebildet.
Ab der Jahrhundertwende laufen die Vorbereitungen für die Gründung internationaler Zusammenschlüsse der sozialistischen und der christlichen Gewerkschaftsdachverbände. Angesichts der organisatorischen Stärke der Gewerkschaften in Deutschland fällt diesen eine Führungsrolle bei den internationalen Einigungs-Bestrebungen zu, die schließlich mit der Vergabe von Vorstands-Positionen honoriert wird: Carl Legien wird Präsident des 1913 in Zürich gebildeten Internationalen Gewerkschaftsbundes, Adam Stegerwald Führer der „Internationalen Gewerkschaftskommission”, aus der später der Internationale Bund der Christlichen Gewerkschaften hervorgeht.
In der Zeit zwischen Sozialistengesetz und Erstem Weltkrieg bilden sich nicht nur die Grundstrukturen der modernen gewerkschaftlichen Massenorganisation heraus. Gleichzeitig geht es in diesen Jahrzehnten auch um die Klärung des gewerkschaftlichen Selbstverständnisses. Es kommt zu intensiven Debatten über die Frage, wie eigenständig und unabhängig sind die Gewerkschaften von ihren jeweiligen weltanschaulich-politischen „Ziehvätern”. Denn sowohl Parteien als auch Kirchen versuchen immer wieder, Einfluss auf die Gewerkschaften zu nehmen oder sie zu ihren Gunsten zu gebrauchen. Doch je stärker die Gewerkschaften werden, je mehr Erfolge sie für ihre Mitglieder durchsetzen können, desto größer das eigene Selbstbewusstsein.
Bei den Freien Gewerkschaften führt diese Frage zu einem heftigen Konflikt mit der SPD. Er entlädt sich in der sogenannten „Massenstreikdebatte“ und wird auf dem Mannheimer SPD-Parteitag 1906 zumindest formal beigelegt: In dem „Mannheimer Abkommen, erkennt die von August Bebel geführte SPD die Gleichberechtigung der Gewerkschaften bei der etwaigen Ausrufung eines politischen Massenstreiks an.
Auch bei den Christlichen Gewerkschaften kommt es zum „Gewerkschaftsstreit“ mit Teilen der katholischen Kirche, die die Interkonfessionalität der Christlichen Gewerkschaften nicht hinnehmen wollen. Nach heftigen Auseinandersetzungen mit dem Episkopat erstreiten sich die Christlichen Gewerkschaften die Anerkennung des Prinzips der Interkonfessionalität und damit die Unabhängigkeit von der katholischen Kirche.
Gewerkschaftsstreit bei den Christlichen Gewerkschaften (pdf)
Es sind überwiegend Berufsorganisationen, die sich in der Generalkommission der Gewerkschaften Deutschlands bzw. im Gesamtverband der christlichen Gewerkschaften zusammenschließen und deren Struktur noch in der Weimarer Zeit prägen. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts nähert sich die gewerkschaftliche Organisationsform dem Stand der industriellen und politischen Entwicklung an und bietet auch Gelernten und Ungelernten einen Platz in den Gewerkschaften.
Leichter als die Einführung des Industrieverbandsprinzips fällt offenbar die Zusammenfassung der Einzelgewerkschaften in nach Weltanschauung getrennte Dachverbände. Damit werden die Entscheidungsstrukturen zentralisiert und gleichzeitig der Trend zur Basis-Ferne der Gewerkschaftsführungen verstärkt – eine Entwicklung, die sich später in Krisensituationen als Problem herausstellen wird.
Die Tendenz der Gewerkschaften, sich dem Zentralismus des politischen Systems anzupassen, wird vielleicht am augenfälligsten durch die Umzüge der Generalkommission bzw. des Gesamtverbandes der christlichen Gewerkschaften von Hamburg bzw. Köln nach Berlin.
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