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Gemälde mit Streikszene aus dem späten 19.Jahrhundert

Das Sozialistengesetz und die Folgen: Die Verbotswelle rollt

Unmittelbar nach der Verabschiedung des Sozialistengesetzes im Oktober 1878 rollt die Verbotswelle gegen Gewerkschaften und Sozialdemokratische Partei an: Schon in den ersten Wochen müssen 17 gewerkschaftliche Zentralverbände, 63 Lokalvereine und 16 Unterstützungsvereine ihre Arbeit einstellen.

Nicht aufgelöst werden – außer den Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereinen – der Buchdruckerverband, der Senefelderbund der Lithographen und Steindrucker, der Schiffszimmererverband und der Verband der sächsischen Berg- und Hüttenarbeiter. Diese haben sich schon zuvor zur parteipolitischen Neutralität bekannt und sind damit auf Distanz zur SPD gegangen. Andere holen es jetzt rasch nach, um ihr organisatorisches Überleben zu sichern.

Auszug aus dem Sozialistengesetz verabschiedet am 19. Oktober 1878 (pdf)

Erste Wiedergründung von Gewerkschaften

Im Bewusstsein des scheinbar raschen Sieges über die sozialdemokratische Gewerkschaftsbewegung, lockern Verwaltung und Polizei in den folgenden Jahren die Zügel und wenden eine „mildere Praxis” des Sozialistengesetzes an. Das ermuntert überzeugte Gewerkschafter, mit dem Wiederaufbau von Arbeiterorganisationen zu beginnen. Lokale Fachvereine, Kranken- und Sterbekassen, Wanderunterstützungen (zur Absicherung gegen die finanziellen Folgen von Streik und Arbeitslosigkeit) und Arbeitsnachweise werden gegründet. Diese Initiativen sollen Arbeiterinnen und Arbeitern in Not helfen und den politischen Zusammenhalt der Sozialdemokraten auch in Zeiten des Ausnahmerechts am Leben erhalten. 1884 gibt es bereits wieder 13, 1886 schon 35 und 1888 dann 40 gewerkschaftliche Zentralverbände.

Auch Arbeitskämpfe lassen sich mit dem Sozialistengesetz nicht ganz unterdrücken. Die Streikbewegung von 12.000 Berliner Maurern im Sommer 1885 belegt das eindrucksvoll.

Neue Rückschläge

Erstaunt von der wachsenden Zustimmung, die Gewerkschaften und Sozialdemokratie in diesen Jahren erfahren, schlägt der Staat 1886 wieder eine härtere Gangart ein. Der preußischen Innenministers Robert von Puttkamer verkündet den Streikerlass und fordert die staatlichen Organe auf, mit aller Schärfe gegen Streiks, Streikende und Streikführer vorzugehen. Die unmittelbare Folge: Von 1886 bis 1888 werden erneut 15 gewerkschaftliche Organisationen und sechs Unterstützungskassen aufgelöst.

Doch auch dies kann die Streikbewegungen nicht stoppen: Angesichts einer leichten Konjunkturbelebung ab 1888 nehmen die Streikaktivitäten wieder zu. Zwischen 1888 und 1890 werden 670 Streiks gezählt.

„Streikerlass“ vom 11. April 1886 (pdf)

Der Bergarbeiterstreik 1889

Der Höhepunkt dieser Streikwelle ist der Streik der Bergarbeiter vom Mai 1889. Es ist ein spontaner Streik, er wird ohne die Mitwirkung von Gewerkschaften organisiert. Die Bergarbeiter fordern eine Lohnerhöhung von 15 Prozent und die Einführung der Achtstundenschicht (einschließlich Ein- und Ausfahrt). Diese an mehreren Orten erhobenen Forderungen werden den Grubenverwaltungen schriftlich übergeben, bleiben aber unbeantwortet. Daraufhin beginnt am 1. Mai – zunächst in einzelnen Zechen – der Streik. Er breitet sich rasch auf das ganze Ruhrgebiet aus. Am 5. Mai ordnet der westfälische Oberpräsident an, Militär gegen die Streikenden einzusetzen. Dennoch schwappt die Streikwelle auf das Saarrevier, nach Nieder- und Oberschlesien, Aachen, Lothringen und Sachsen (Zwickau, Lugau und Plauen) über. Schließlich beteiligen sich 150.000 Arbeiter an dem Ausstand.

Er endet mit einem Kompromiss in der Arbeitszeitfrage, nachdem Kaiser Wilhelm II. eine Delegation der Bergarbeiter unter Leitung von Ludwig Schröder empfangen hat. Doch die Bergbauunternehmen weigern sich in der Folgezeit, diesen Kompromiss umzusetzen.

Die wichtigste Lehre aus diesem Arbeitskampf:  Mit spontanen, nicht abgestimmten Arbeitskampfmaßnahmen lassen sich Staat und Fabrikherren kaum zu Zugeständnissen bewegen. Die Konsequenz der Streikenden: Im August 1889 wird der sozialdemokratisch orientierte Bergarbeiterverband, der „Alte Verband” gegründet.

Die Mitgliederzahl der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine, die ja nicht vom Sozialistengesetz betroffen sind, wächst von gut 16.500 im Jahre 1878 über rund 52.000 (1886) auf ca. 63.000 im Jahr 1890. Außerdem profitiert das Unterstützungswesen der Gewerkvereine von der Einführung der Versicherungspflicht im Jahre 1883, der man sich durch den Eintritt in eine private Kasse entziehen kann.

Eindrucksvoller als diese Entwicklung ist jedoch der Aufschwung der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften: Ihre Mitgliedschaft steigt, trotz Verfolgung und Unterdrückung, in nur zwei Jahren von etwa 53.000 auf gut 230.000 Ende des Jahres 1889. Die Gewerkschaften sind auf dem besten Weg zur Massenbewegung – eine Entwicklung, die in den folgenden Jahrzehnten bis zum Ersten Weltkrieg vollends zum Durchbruch kommen wird.

Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine gehen daran, ihre Mitglieder in berufsübergreifenden Verbänden zu organisieren und da sie nicht unter politische Auflagen leiden, wird dieser Zentralisierungsprozess nicht gestört. Bei den Freien Gewerkschaften liegt das Schwergewicht – in den zentralen wie in den örtlichen Verbänden – nach wie vor bei den handwerklich ausgebildeten Arbeitern. Nur wenige Verbände, etwa die der Tabakarbeiter und die der Manufakturarbeiter, versuchen bereits in den 1880er Jahren, gelernte und ungelernte Arbeiter sowie Männer und Frauen gemeinsam zu organisieren. Ein entsprechender Vorstoß des Metallarbeiter-Verbandes wird allerdings im Sommer 1885 durch einen Auflösungsbescheid unterbunden.

Neben den Zentralverbänden gibt es zahlreiche berufsorientierte Fachvereine auf örtlicher Ebene, die handwerklich ausgebildete Arbeiter, so genannte „Gesellen-Arbeiter”, organisieren. Sind die Zentralverbände nach dem Modell der repräsentativen Demokratie (Delegation von Ebene zu Ebene) organisiert, setzen die Lokalvereine auf die spontane und direkte Beteiligung aller Arbeiter. Diese Idee lebt fort bis in die Anfänge des 20. Jahrhunderts und wird insbesondere in der Revolutionszeit 1918/19, wieder aktuell.

In den 1890er Jahren findet ein Generationswechsel statt, der die Gewerkschaften prägen wird. An die Spitze der neuen Verbände treten erstmals Männer, die „geborene” Arbeiter sind, etwa Carl Legien von den Holzarbeitern, Carl Kloß von den Tischlern und Alexander Schlicke von den Metallarbeitern – um nur einige zu nennen.

In den 1880er Jahren entwickelt sich auch die internationale Zusammenarbeit der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung. Wie ein Fanal wirkt im Juli 1889 der Internationale Arbeiterkongress in Paris. Er fordert in einer Arbeiterschutz-Resolution die Einführung des Achtstundentages und ruft alle Gewerkschaften dazu auf, jedes Jahr am 1. Mai für dieses Ziel zu demonstrieren. Es ist ein Beschluss, an dem sich die Geister in der deutschen Gewerkschaftsbewegung scheiden.

Der Internationale Arbeiterkongress im Juli 1889 in Paris (pdf)

Auch die Kirchen tun Einiges, um die Arbeiterschaft zu organisieren. Da ist zunächst der Verband „Arbeiterwohl” zu nennen, der 1880 vom Tuchfabrikanten Franz Brandts gegründet und ab 1881 von Franz Hitze als Generalsekretär geführt wird. Aus diesem Verband geht 1890 der Volksverein für das katholische Deutschland hervor, der sich entschieden für die Ausbreitung der katholischen Arbeitervereine und später für die Gründung und Stärkung der Christlichen Gewerkschaften einsetzt. Auch die Enzyklika „Humani generis” von Papst Leo XIII. aus dem Jahre 1884 ruft dazu auf, katholische Arbeitervereine zu gründen, um die Arbeiter in die Kirche einzubinden und gegen die Sozialdemokratie zu immunisieren.

Eine ähnliche Zielsetzung verfolgt die evangelische Kirche, die seit 1882 evangelische Arbeitervereine ins Leben ruft. 1890 schließen sich diese zu einem Gesamtverband mit etwa 40.000 Mitgliedern zusammen. Er tritt ein für den harmonischen Interessenausgleich zwischen Arbeitgeber und Arbeiter sowie für Kaiser und Vaterland.

Insgesamt werden unter dem Sozialistengesetz 17 gewerkschaftliche Zentralverbände, 78 örtliche Fachvereine, 23 Unterstützungskassen, 106 politische und 108 Vergnügungsvereine aufgelöst. Verboten werden überdies fast alle gewerkschaftlichen Zeitungen und Zeitschriften, die als Informationsquelle angesichts der Übermacht der bürgerlichen Presse große Bedeutung haben. Insgesamt werden 1.299 Druckschriften eingezogen.

Zu den bittersten Folgen des Gesetzes gehört die Verfolgung zahlreicher Organisatoren der Arbeiterbewegung: Etwa 1.500 Personen werden zu Gefängnis- und Zuchthausstrafen verurteilt, rund 900 Personen werden aus ihren Heimatorten ausgewiesen. Viele gehen ins politische Exil, manche wandern aus – für immer.

Doch allen Unterdrückungsmaßnahmen zum Trotz: die sozialdemokratische Arbeiterbewegung entwickelt sich positiv: Der Stimmenanteil der Sozialdemokratischen Partei wächst bei den Reichstagswahlen von 1873 bis 1890 von 7,5 Prozent auf 19,7  Prozent. Und auch die Freien Gewerkschaften gewinnen neue Mitglieder.

Dennoch: Die Erfahrung mit Ausgrenzung, Unterdrückung und politischer Entrechtung der (sozialdemokratischen) Arbeiterschaft und die Anfänge der staatlichen Sozialpolitik beeinflussen die sozialdemokratische bzw. gewerkschaftliche Politik. Sie bereitet in Teilen der Arbeiterbewegung den Boden für radikale Positionen, andere beginnen angesichts der staatlichen Sozialpolitik die Rolle des Staates zu überdenken. Für sie ist der Staat nicht mehr allein der „Agent kapitalistischer Interessen“, sondern auch ein möglicher sozialpolitischer Akteur.

Mit der Thronbesteigung Wilhelms II. am 15. Juni 1888 verknüpfen viele die Hoffnung auf politische und soziale Reformen. Auch am Reichstag geht diese „neue” Stimmung nicht spurlos vorbei. Als die Regierung am 25. Januar 1890 erneut die Verlängerung des Sozialistengesetzes beantragt, stimmt die Mehrheit dagegen.

Am 20. März 1890 tritt Bismarck vom Amt des Reichskanzlers zurück, zumal er auch das Vertrauen Kaiser Wilhelms II. verloren hat. Für die Gewerkschaften beginnt eine neue Zeit.

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