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Ein Bild von Ferdinand Johann Gottlieb Lassalle

ADAV: Lassalle und die Gewerkschaften

Wegweisend für die Entwicklung der Sozialdemokratie ist die Gründung des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins (ADAV) unter der Führung von Ferdinand Lassalle am 23. Mai 1863 in Leipzig.

In seiner Programmschrift, dem „Offnen Antwortschreiben” an das Zentralkomitee zur Berufung eines allgemeinen deutschen Arbeiterkongresses zu Leipzig vom 1. März 1863, entwirft er nicht nur ein scharfes Bild der elenden Gegenwartslage, sondern weist zugleich den Weg in eine bessere Zukunft. Gleiches Wahlrecht und Produktivassoziationen mit Staatshilfe sind die Schlüsselworte dieses Konzepts, in dem die Gewerkschaften keinen Platz haben.

Gewerkschaftliche Arbeit wird überdies als sinnlos betrachtet. In seinem „Offnen Antwortschreiben” entwickelt Lassalle in Auseinandersetzung mit der Idee der Konsumvereine das „eherne Lohngesetz”. Danach könne der Arbeitslohn nicht dauerhaft über das Existenzminimum steigen, da sich bei gestiegenem Lohn die Arbeitsbevölkerung vermehren und dann das vergrößerte Arbeitskräfteangebot den Lohn wieder drücken werde. Zwar sieht Lassalle in der Organisation der Arbeiterschaft die Voraussetzung zur Erlangung politischen Einflusses. Gemeint ist aber nur das Wachsen der parteipolitische Organisation – des ADAV, dessen Mitgliederzahl nur langsam, auf 4.600 im Sommer 1864, wächst.

„Offnes Antwortschreiben” von Ferdinand Lassalle (pdf)

Erst angesichts des Zulaufs zu den Gewerkschaften, ringt sich der ADAV, nach Lassalles Tod (1864) von Johann Baptist von Schweitzer geführt, zur Anerkennung dieses Zweiges der Arbeiterbewegung durch. F. W. Fritzsche, ein ADAV-Funktionär, übernimmt schließlich sogar die Führung einer Gewerkschaft, die des Zigarrenarbeiter-Verbandes. Es ist freilich nicht auszuschließen, dass von Schweitzer, der seine Vorbehalte gegen Gewerkschaften nie verhohlen hat, die Gründung von Gewerkschaften auch deswegen betreibt, weil zu erwarten war, dass die Anhänger der 1864 in London gebildeten Internationalen Arbeiterassoziation (IAA) bald eigene Verbände schaffen würden.

Wie dem auch sei: Auf der Generalversammlung des ADAV, die vom 22. bis 26. August 1868 in Hamburg tagt, beantragt Schweitzer die Einberufung eines Kongresses zur Gründung eines Dachverbandes der lassalleanisch orientierten Gewerkschaften. Zwar lehnt die Mehrheit der Generalversammlung, noch ganz auf den Spuren der anfänglichen Gewerkschaftsfeindlichkeit, diesen Vorschlag ab. Doch Schweitzer und auch Fritzsche werden ermächtigt, in ihrer Funktion als Reichstagsabgeordnete zu einem Kongress nach Berlin einzuladen. Am 26. September wird daraufhin – unter dem Vorsitz Schweitzers – in Berlin der Allgemeine Deutsche Arbeiterschaftsverband gegründet, der sich, getreu den zentralistischen Prinzipien des ADAV, in berufliche Arbeiterschaften, z. B. für Berg- und Hüttenarbeiter, Metallarbeiter, Färber, Schuhmacher usw., gliedert. Neun der insgesamt 12 vorgesehenen Arbeiterschaften werden sofort gebildet.

In seiner Satzung bekennt sich der Allgemeine Deutsche Arbeiterschaftsverband zum Ziel der „Wahrung und Förderung der Ehre und der materiellen Interessen der Arbeiterklasse”. In Übereinstimmung mit den zentralistischen Vorstellungen des ADAV hat nach § 2a jede Arbeiterschaft „ihrem Präsidenten oder einer sonstigen einzelnen Person unbedingte Vollmacht zu erteilen, im Namen der Arbeiterschaft bei den Verhandlungen und Beschlüssen des Zentralausschusses des deutschen Arbeiterschaftsverbandes mitzuwirken”. Dieser Zentralausschuss, gebildet von den Präsidenten der einzelnen Arbeiterschaften, ist dann das Gremium, in dem über die Unterstützung eines Streiks entschieden wird (§ 8 f.). Schaut man auf die zeitgenössischen Streikbewegungen, so bedeutet diese Regelung, dass der Weg vom betrieblichen oder örtlichen Protest bis zur Unterstützung durch den Zentralausschuss sehr weit geworden ist. Gewiss ist das ein Beitrag zu geplantem und vernünftigem Gewerkschaftshandeln. Gewiss zeigt sich darin auch der Weg zur Organisierung des Arbeitsmarktkonflikts. Doch für die betroffenen Arbeitnehmer ist es manchmal schwer nachzuvollziehen, warum sie ihre Streikaktion aus „übergeordneten” Gesichtspunkten zurückstellen sollen.

Satzung für den (Schweitzerschen) Allgemeinen Deutschen Arbeiterschaftsverband (pdf)

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