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Ab 1830: Hilfe zur Selbsthilfe: Die ersten Arbeiterorganisationen
Der Weg bis zur Gründung der ersten, stabilen Arbeiterorganisationen ist lang. Zwar werden in den 1830/40er Jahren erste Vereine gebildet, doch die Zusammenschlüsse sind selten von Dauer.
Das Anliegen der frühen Organisationen ist zu allererst Hilfe zur Selbsthilfe zu ermöglichen. Es sind Unterstützungskassen, die bei Krankheits- und Sterbefällen sowie den wandernden Handwerksgesellen Hilfe leisten. Hinzukommen – meist von Vertretern des Bürgertums ins Leben gerufene – Bildungsvereine und ganz vereinzelt Streikvereine.
Doch die Protestbewegungen im Vormärz, den Jahren vor der März-Revolution 1848, zeigen, dass Selbsthilfe- und Bildungsvereine nicht verhindern können, dass die Unzufriedenheit der Arbeiter mit den sozialen und politischen Verhältnissen wächst. In zahlreichen Bittschriften an Arbeitgeber und Behörden bringen sie ihren Ärger zum Ausdruck. Es kommt zu Hunger-Unruhen, vereinzelten Fälle von Maschinenstürmerei und Protesten gegen Verleger und Kaufleute wie im Weber-Aufstand 1844. Und es kommt zu ersten Streiks und Boykottaktionen von Handwerksgesellen und Eisenbahnbauarbeitern. Diese neuen Kampfformen sind wegweisend für die folgenden Jahre.
Allerdings: Es sind nicht die Ärmsten der Armen, die zu Vorkämpfern für eine Arbeiterorganisation werden. Tagelöhner und Heimarbeiter haben weder die Erfahrung, noch das Selbstbewusstsein, noch die finanziellen Möglichkeiten, für eine Organisation zu kämpfen. Auch ist die Zahl der Arbeiter in der Industrie um die Jahrhundertmitte noch gering. So ist es nicht verwunderlich, dass vor allem die Handwerksgesellen zu Trägern des Organisationsgedankens werden. Geprägt von starkem Berufsstolz, empfinden sie die kapitalistischen Arbeitsverhältnisse und den Wandel der Arbeitsbedingungen als Angriff auf die eigenen Hoffnungen und Erwartungen. Sie sehen ihre Arbeit durch den zunehmenden Einsatz von Maschinen zerstückelt und ihre handwerkliche Qualifikation entwertet. Der einst sichere Aufstieg zum selbstständigen Handwerksmeister ist für die meisten Gesellen unerreichbar geworden.
So ist es nicht erstaunlich, dass es Gesellen sind, die die ersten Vereine gründen. Es sind Verbände, die teils berufsständische, teils radikaldemokratische Ziele verfolgen. Besonders zu erwähnen ist der radikal-demokratische geheime „Bund der Geächteten“. Er wird 1834 in Paris von Intellektuellen und Handwerksgesellen gegründet, die Deutschland aus politischen Gründen verlassen haben. 1837 spaltet sich der „Bund der Gerechten” ab, der zunächst von den sozialrevolutionären Ideen des Magdeburger Schneidergesellen Wilhelm Weitling geprägt ist und sich 1847, unter dem Einfluss von Karl Marx und Friedrich Engels, in „Bund der Kommunisten” umbenennt.
Proletarier aller Länder vereinigt euch
Dieser „Bund der Gerechten“ propagiert die Thesen des „Kommunistischen Manifests”, das Karl Marx und Friedrich Engels im Februar 1848 in London veröffentlichen haben und das die Arbeiterbewegung in den Folgejahren stark beeinflussen wird. Danach, so Marx und Engels, ist die „Geschichte aller bisherigen Gesellschaft […] die Geschichte von Klassenkämpfen”. Der moderne Kapitalismus sei geprägt von Ausbeutung, Unterdrückung und der politischen Herrschaft der Bourgeoisie, die die Produktionsmittel besitzen.
Angesichts dieser Tatsache, werde sich die Gesellschaft „mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen spalten: Bourgeoisie und Proletariat”. Aber: „Mit der Entwicklung der großen Industrie wird [. . .] unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und die Produkte sich aneignet.” Denn mit Voranschreiten des Kapitalismus werde die Arbeiterschaft immer stärker. So produziere die Bourgeoisie „vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind unvermeidlich”. Ziel der Kommunisten sei es, diesen Sieg herbeizuführen, und zwar durch „Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisieherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat”. Nötig seien die Abschaffung des Privateigentums an Produktionsmitteln und der „gewaltsame Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung”. Wie ein Fanal wirken die Schluss-Sätze: „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen. Proletarier aller Länder, vereinigt euch!”
Viele Jahre später wird das „Kommunistische Manifest” große Bedeutung erlangen, doch Mitte des 19. Jahrhunderts geht es an der politischen und sozialen Situation in Deutschland vorbei. Noch ist das Proletariat keine Masse, noch gibt es keine proletarische Massenorganisation – und das Bewusstsein, dass Arbeiter gemeinsame Interessen haben, muss sich erst noch entwickeln.
Revolution 1848 – der Durchbruch
Der Prozess der Bewusstseinsbildung wird durch die Revolution 1848 beschleunigt, breite Kreise der Bevölkerung werden politisiert. Getragen wird die Revolution vor allem von Handwerkern und Arbeitern, die auf den Barrikaden eben nicht nur für die Demokratie, sondern auch für ihre sozialen und wirtschaftlichen Ziele kämpfen. Die von einzelnen Arbeiterorganisationen, zum Beispiel dem Berliner „Zentralkomitee für Arbeiter“, von der Nationalversammlung geforderten sozialpolitischen Reformen spielen jedoch in den Verfassungsberatungen keine Rolle.
Dennoch weckt die in der Verfassung festgeschriebene Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit die Hoffnung, monarchische Staaten könnten demokratisiert werden. Und das verhilft der Organisationsidee zum Durchbruch: Allenthalben entstehen Arbeiter- und Gesellenorganisationen sowie erste Gewerkschaften, die ihre sozialreformerischen Ziele gegenüber Arbeitgebern, lokalen Politikern und auch der Nationalversammlung vertreten.
Petition der Buchdrucker an die Nationalversammlung (pdf)
Ebenfalls 1847/48 werden die ersten katholischen und evangelischen Arbeitervereine gegründet. Sie knüpfen an frühe sozialkritische Überlegungen von christlichen Laien und Geistlichen und an die Tradition von Frömmigkeits- und Hilfsvereinen an. Sie stehen unter geistlicher Leitung, sind also eingebunden in die kirchliche Hierarchie und sollen der Festigung des Glaubens, der Bildung und Geselligkeit sowie der Hebung des Standesbewusstseins der Arbeiter dienen. Sie wollen damit einen Beitrag zur Lösung der Sozialen Frage leisten, wie das Massenelend damals vor allem von bürgerlichen Sozialreformern bezeichnet wird. Parallel zur Entwicklung der ersten konfessionellen Arbeitervereine breiten sich die von Adolph Kolping 1847 ins Leben gerufenen Katholischen Gesellenvereine aus. Sie sollen unverheirateten Männern religiöse Belehrung, berufliche Weiterbildung und familiäre Geselligkeit bieten. Auf evangelischer Seite ist Johann Hinrich Wicherns Eintreten für die soziale Fürsorge im Rahmen seines Programms der „Inneren Mission” zu erwähnen.
Diese Bemühungen, die Arbeiter einzubinden, stoßen in der katholischen Kirche auf Unterstützung. Vor allem Bischof Wilhelm Emanuel Freiherr von Ketteler setzt sich seit seinen Adventspredigten 1848 immer wieder und mit zunehmender Schärfe für die Besserung der sozialen und politischen Lage der Arbeiterschaft ein. Demgegenüber hält sich die evangelische Amtskirche, mit der Feudalherrschaft vor allem in Preußen eng verbunden, eher zurück. Einig sind sich katholische und evangelische Sozialreformer allerdings darin, dass der Kampf gegen das soziale Massenelend vor allem eine Frage der Moral sei. Sie sehen es als ihren kirchlichen Auftrag, die Gesinnung von Unternehmern und Arbeitern zu verändern. Sie setzen sich für die Gründung von Arbeitervereinen ein, nicht aber für die Förderung einer selbstständigen Arbeiterbewegung.
Mitte 1848 liegt die Idee selbstständiger Arbeiterorganisationen „in der Luft“. Wegweisend hierfür ist die Initiative des Schriftsetzers Stephan Born. Er beruft mit dem Berliner „Zentralkomitee für Arbeiter” für Ende August 1848 den Allgemeinen deutschen Arbeiterkongress nach Berlin ein, auf dem die „Arbeiterverbrüderung” gegründet wird. Träger dieser ersten deutschen „Massenbewegung” der Arbeiterschaft sind Handwerksgesellen, qualifizierte Facharbeiter und Meister. Später schließen sich auch einige Berufsverbände der Arbeiterverbrüderung an, etwa der örtliche Verband der Berliner Maschinenbauer, der Zigarrenarbeiter-Verband und der Buchdrucker-Verein.
Im sozialpolitischen Programm der Arbeiterverbrüderung vom September 1848 werden nicht nur die traditionellen Wege der sozialen Selbsthilfe wie Wanderunterstützungs-, Kranken- und Sterbekasse empfohlen. Darüber hinaus sollen Produktions- und Konsumgenossenschaften gegründet und der 10-Stunden-Tag gesetzlich verankert werden. Außerdem beschließt die Arbeiterverbrüderung die Herausgabe der eigenen Zeitschrift „Die Verbrüderung”.
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