Nach zähen Verhandlungen wird im Dezember 1966 die Regierung der Großen Koalition unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) und Vizekanzler sowie Außenminister Willy Brandt (SPD) gebildet. Damit ändert sich auch das Verhältnis der Gewerkschaften zur neuen Regierung. Am deutlichsten zeigt sich das daran, dass mit Georg Leber ein profilierter Gewerkschaftsvorsitzender zum Verkehrsminister ernannt wird.
Die zentralen Aufgaben der neuen Regierung liegen ohne Zweifel auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Finanzpolitik. Sie soll den Bundeshaushalt 1967 ausgleichen und die Wirtschaft ankurbeln. Die beiden Minister, die dafür die Verantwortung tragen, könnten unterschiedlicher kaum sein: Franz Josef Strauß (CSU) wird Finanzminister, Karl Schiller (SPD) Wirtschaftsminister.
Die Regierung setzt darauf, durch staatliche Lenkungsmaßnahmen die Konjunktur zu beleben. Sie liegt damit voll und ganz auf der Linie der Gewerkschaften. Schon in der Krise der 1930er Jahren hatten diese ein Programm zur Wirtschaftsbelebung durch staatliche – notfalls defizitär finanzierte – Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen befürwortet. Und auch im Grundsatzprogramm von 1963 bekennt sich der DGB zur Grundidee der keynesianischen Politik, nach der der Staat konjunkturell bedingte Auftragsausfälle durch verstärktes Engagement der öffentlichen Hand ausgleichen soll.
Auch die im „Stabilitätsgesetz” verankerten Instrumente für eine vorausschauende Wirtschafts- und Finanzpolitik finden den Beifall der Gewerkschaften. Sie begrüßen die Einsetzung des Sachverständigenrates, die Verpflichtung zur Vorlage eines Jahreswirtschaftsberichts sowie zur mittelfristigen Finanzplanung. Damit seien einige Instrumente geschaffen, die eine behutsam planende Wirtschaftspolitik ermöglichen.
Ein zweischneidiges Instrument der Wirtschaftspolitik ist die in § 3 des „Stabilitätsgesetzes” verankerte „Konzertierte Aktion”, die Karl Schiller bereits zur Jahreswende 1966/67 ins Leben ruft. Vertreter der Bundesministerien für Wirtschaft, für Finanzen und für Arbeit, der Bundesbank und des Bundeskartellamts, des Sachverständigenrats sowie der Wirtschaftsverbände und der Gewerkschaften sollen sich mehrmals im Jahr treffen, um anstehende wirtschaftliche Probleme zu diskutieren. Diese Treffen sollen dem Informationsaustausch dienen. Verbindliche Absprachen, die Regierung und Tarifpartner einschränken, sind nicht vorgesehen.
Im Dezember 1966 erklären Vertreter des DGB die Bereitschaft, an der „Konzertierten Aktion” mitzuwirken. Trotz mancher Zweifel. Ähnliche Initiativen wie die Zentralarbeitsgemeinschaft nach dem I. Weltkrieg oder der (vorläufige) Reichswirtschaftsrat in der Weimarer Republik waren bekanntlich nicht sehr erfolgreich. Dennoch stellen sie sich der wirtschaftspolitischen Verantwortung und beteiligen sich an der Konzertierten Aktion. Doch auch diesmal müssen die Gewerkschaften erkennen, dass sie in wirtschaftspolitischen Grundsatzfragen keinen Stich machen. Gegen die Front von Arbeitgeber- und Regierungsvertretern kommen sie nicht an.
Erste Reformgesetze
Besondere Hoffnungen setzen die Gewerkschaften auf die von der SPD angekündigten Reformen und sie bringen selbst eine Reihe von Gesetzentwürfen ein: Am 13. Mai 1969 wird das Arbeitsförderungsgesetz verabschiedet, das der Bundesanstalt für Arbeit besondere Aufgaben bei der Förderung der beruflichen Bildung, der Fortbildung und vor allem Umschulung überträgt. Am 12. Juni 1969 folgt das Lohnfortzahlungsgesetz, das nun endlich – ab 1. Januar 1970 – Arbeiter bzw. Arbeiterinnen und Angestellte im Krankheitsfalle gleichstellt. Am 14. August 1969 wird das Berufsbildungsgesetz verabschiedet, das den auf dem DGB-Kongress 1966 vorgelegten Forderungen jedoch nicht voll entspricht. Am 19. September 1969 wird das „Erste Gesetz über individuelle Förderung der Ausbildung” veröffentlicht, das die Ausbildungsförderung im oberen Schulbereich regelt.
Ihrem Kernanliegen kommen die Gewerkschaften indes kaum näher. Ausgelöst durch die Wirtschaftskrise fordern sie die Ausdehnung der paritätischen Mitbestimmung auf alle Großunternehmen. Sie rufen die „Aktion Mitbestimmung” ins Leben, legen am 12. März 1968 einen eigenen Gesetzentwurf vor und versuchen mit einer Kampagne zum 1. Mai die Arbeitnehmer für das Thema „Mitbestimmung” zu mobilisieren. Nach den Vorstellungen der Gewerkschaften soll das Modell der Montanindustrie in allen Unternehmen eingeführt werden, die folgende Kriterien erfüllen: Mehr als 2.000 Beschäftigte und eine Bilanzsumme von über 75 Millionen DM bzw. über 150 Millionen DM Umsatz im Jahr.
Die SPD übernimmt die Vorstellungen des DGB und arbeitet sie in ihren Gesetzentwurf ein. Doch in der Großen Koalition gehen die Meinungen auseinander. Die Regierung beruft eine Kommission ein, die die Erfahrungen mit der paritätischen Mitbestimmung im Montanbereich untersuchen soll. Der Bericht der Kommission, erarbeitet unter der Leitung von Kurt Biedenkopf (CDU), wird erst 1970 vorgelegt. Da ist die Große Koalition bereits abgewählt.
Zur Zurückhaltung der Großen Koalition in der Mitbestimmungsfrage trägt gewiss die Flügelbildung in der CDU/CSU-Fraktion bei. Aber wahr ist auch: Den Gewerkschaften gelingt es trotz aller Anstrengungen nicht, die Massen für die Mitbestimmungsforderung zu mobilisieren. Ganz andere Themen bewegen die Menschen, insbesondere die Jugendlichen, in diesen Tagen: Sie gehen auf die Straße, um gegen den Vietnam-Krieg, gegen das Schah-Regime im Iran und gegen die Notstandsgesetze zu protestieren.