Gewerkschaften und Sozialdemokratie

Sozialdemokraten befürworten einheitliche Arbeiterorganisation

Bereits 1870 entwickelt Theodor Yorck, der Vorsitzende des Holzarbeiterverbandes, den Plan, die Gewerkschaften zusammenzuschließen. Auf dem Erfurter Gewerkschaftskongress vom 15. bis 17. Juni 1872 wird diese Idee einstimmig befürwortet.

„In Erwägung, dass die Kapitalmacht alle Arbeiter, gleichviel, ob sie konservativ, fortschrittlich-liberal oder Sozialdemokrat sind, gleich sehr bedrückt und ausbeutet, erklärt der Kongress es für die heiligste Pflicht der Arbeiter, allen Parteihader beiseite zu setzen und auf dem neutralen Boden einer einheitlichen Gewerkschaftsorganisation die Vorbedingung eines erfolgreichen kräftigen Widerstandes zu schaffen, die bedrohte Existenz sicherzustellen und eine Verbesserung ihrer Klassenlage zu erkämpfen.” Doch die für Pfingsten 1874 auf dem Gewerkschaftskongress in Magdeburg ins Auge gefasste Gründung einer „Gewerkschafts-Union” als Dachverband „der deutschen Gewerkschaftsgenossenschaften, Gewerk- und Fachvereine, welche die materielle Besserung und geistige Hebung der Arbeiterklasse zu erreichen bestrebt sind”, scheitert letztlich an den Vorbehalten der Lokalorganisationen, die jede Zentralisierung der Entscheidungsstrukturen als undemokratische Entmachtung ihrer eigenen Organisation zurückweisen. Wie stark die Stellung dieser örtlichen Vereine ist, zeigt die Zahl ihrer Mitglieder: Von den durch 50 Delegierte in Erfurt vertretenen etwa 11.300 Gewerkschaftern gehören rund 6.100 gewerkschaftlichen Zentralverbänden, 3.700 lokalen Fachvereinen und 1.500 freien oder „gemischten” Gewerkschaften an.

Dennoch verleiht die Krise der jungen Gewerkschaftsbewegung den Bestrebungen nach Einigung Nachdruck – wenngleich auch nur für den Bereich der sozialdemokratisch orientierten Verbände. Den Weg frei für einen Zusammenschluss der Gewerkschaften macht indessen erst die Vereinigung der politischen Parteien: Mit der Reichsgründung 1871 ist einer der Streitpunkte zwischen Lassalleanern und Eisenachern fortgefallen. Denn die Frage, ob die Reichseinigung unter preußischer Vorherrschaft, wie von den Lassalleanern befürwortet, oder eine groß-deutsche Lösung unter Einschluss Österreichs anzustreben sei, ist zu Gunsten der ersteren entschieden. In den Grundprinzipien – radikale Reform, nicht aber Revolution – sind sich beide Parteien, die bei den Reichstagswahlen am 10. Januar 1874 zusammen 6,8 Prozent der Stimmen erhalten, ohnehin einig.

Krise nagt am Selbstbewußtsein der Gewerkschaften

Auch mit Blick auf die Schwäche der Gewerkschaftsbewegung scheint sich eine Einigung der Sozialdemokratie zu empfehlen, wie sie dann auf dem Gothaer Parteitag vom 22. bis 27. Mai 1875 mit der Bildung der Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands beschlossen wird. Als Erfolg des Parteienzusammenschlusses kann nicht nur der Stimmenzuwachs auf 9,1  Prozent bei den Reichstagswahlen vom 10. Januar 1877 gelten. Auch die Einigung der sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaftsbewegung ist hier zu nennen, die auf einer Gewerkschaftskonferenz am 28. und 29. Mai 1875, ebenfalls in Gotha, beschlossen wird.

Der Zusammenschluss basiert auf einer von Friedrich Wilhelm Fritzsche eingebrachten Resolution, in der es den Gewerkschaftern zur Pflicht gemacht wird, „aus den Gewerkschaftsorganisationen die Politik fern zu halten”. Damit ist die innersozialdemokratische Kontroverse zwischen Lassalleanern und „Eisenachern“ gemeint. Gefordert wird, dass sich die Gewerkschafter der neu geschaffenen Sozialistischen Arbeiterpartei anschließen sollen, „weil nur diese die politische und wirtschaftliche Stellung der Arbeiter in vollem Maße zu einer menschenwürdigen zu machen vermag”. Mit dieser Formulierung sollen die Auflagen des Vereinsgesetzes hinsichtlich „politischer Vereine” unterlaufen werden. Zugleich ist dies jedoch Ausdruck der Idee einer Arbeitsteilung zwischen Gewerkschaft und Partei, wobei Letzterer ohne Zweifel der Vorrang gebühren soll. In der Resolution der Gewerkschaftskonferenz heißt es voller Bescheidenheit: „Obgleich die gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter nicht vermögend sind, die Lage der Arbeiter durchgreifend und auf die Dauer zu verbessern, so sind sie doch immerhin geeignet, die materielle Lage derselben zeitweise zu heben, die Bildung zu fördern und sie zum Bewusstsein ihrer Klassenlage zu bringen.”

Beschlüsse der Gewerkschaftskonferenz in Gotha am 28./29. Mai 1875 (pdf)

Das geringe Selbstbewusstsein der Gewerkschafter ist sicherlich eine Folge der unmittelbar zuvor erfahrenen Krise mit all ihren Rückschlägen für Organisation und Arbeitskampf. Die bereitwillige Anerkennung der Führungsrolle der Partei ist aber zugleich Ausdruck der politischen Situation, in der die rechtliche Sicherung der Gewerkschaften und die Gleichberechtigung der Arbeiterschaft insgesamt erst noch erobert werden müssen.

Seiten dieses Artikels:

1871 - 1890

Nach dem deutsch-französischen Krieg: Arbeiterschaftsverband unter Druck
Das Sozialistengesetz und die Folgen: Die Verbotswelle rollt

Themen und Aspekte dieser Epoche:

Die SPD unter dem Sozialistengesetz
Streit um lokale oder zentrale Strukturen
Sozialdemokraten befürworten einheitliche Arbeiterorganisation

Arbeitslosigkeit von 1887 bis 1940
Entwicklung der Arbeitskämpfe 1848 bis 1875 (pdf) 
Die Arbeitszeit in der Industrie von 1800 bis 1918 (pdf)
Mitgliederentwicklung gewerkschaftlicher Spitzenverbände ab 1869 (pdf)
Struktur der Erwerbsbevölkerung 1882 bis 2012 (pdf)
Erwerbstätige nach Beruf 1895 bis 2014 (pdf)

Downloadmöglichkeit der Tabellen aller Epochen 

Quellen- und Literaturhinweise

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Kutz‑Bauer, Helga, Arbeiterschaft, Arbeiterbewegung und bürgerlicher Staat in der Zeit der Großen Depression. Eine regional‑ und sozialgeschichtliche Studie zur Geschichte der Arbeiterbewegung im Großraum Hamburg 1873-1890, Bonn 1987

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Vereinigungsparteitag der Sozialdemokraten in Gotha im Mai 1875: Portraits von Delegierten mit Ferdinand Lassalle und Karl Marx (Bild Mitte)
© Adsd/B002572

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