Langsam erholen sich die Gewerkschaften von den Folgen der Wirtschaftskrise und von den Niederlagen, die sie in den zurückliegenden Jahren einstecken mussten. Sie werden durchsetzungsfähiger und damit auch attraktiver. Ende des 19. Jahrhunderts gelingt der Durchbruch – trotz massiver staatlicher Versuche, die Arbeiterbewegung zu stoppen.
Die ständigen Warnungen Kaiser Wilhelms II. vor den Parteien des Umsturzes, die massiven Polizeieinsätze gegen Streikende und die bitteren Niederlagen, die die Gewerkschaften in den zurückliegenden Jahren einstecken mussten, haben fatale Folgen: Die Gewerkschaften sind verunsichert, taktieren, um Konflikte mit dem Staat zu vermeiden und verprellen damit viele ihrer Mitglieder. In Scharen treten Arbeiterinnen und Arbeiter aus, zwischen 1890 und 1892 fast 75.000. Erst Mitte der 1890er zeichnet sich eine Wende ab: Die Gewerkschaften können endlich – wenn auch bescheidene – Verbesserungen durchsetzen. Die Löhne steigen zwischen 1890 und 1913 von 650 auf 1.083 Mark, die Arbeitszeit wird verkürzt von 11 Stunden (1890) auf 10 Stunden pro Tag (1913). Und die Mitgliederzahlen steigen. Die Gewerkschaften entwickeln sich zu Massenorganisationen. 1914 haben allein die Freien Gewerkschaften 1.502.811 Mitglieder.
Emma Ihrer, Mitglied der ersten Generalkommission und Leiterin des Frauenkomitees der Freien Gewerkschaften
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Diese Erfolge sind zum einen der inzwischen florierenden Wirtschaft, zum anderen wichtigen Veränderungen im Aufbau der Gewerkschaften geschuldet. 1890 stimmen die Verbände, die sich in den Freien Gewerkschaften zusammengeschlossen haben, der Bildung einer zentralen Generalkommission zu. Im März 1892, auf einem Kongress in Halberstadt, wird nach heftigen Auseinandersetzung, die Bildung von Zentralverbänden beschlossen. Die Anhänger lokaler Organisationsprinzipien verlassen unter Protest den Kongress. Sie versuchen in den Jahren darauf die lokale Bewegung gegen die zentralen Berufsverbände zu stärken. Ohne Erfolg. Sie verschwinden zu Beginn des 20. Jahrhunderts von der politischen Bühne.
Nicht abschließend geklärt werden kann auf diesem Kongress der Konflikt, ob die einzelnen Gewerkschaften berufsständische Organisationen bleiben wollen oder sich für neue Mitgliedergruppen, wie etwa für un- und angelernte Arbeiter, öffnen sollen. Während die Handwerker in kleinen und mittleren Betrieben sich für Berufsverbände aussprechen, unterstützen die Arbeiter in Großbetrieben, die aus ganz unterschiedlichen Berufen kommen, die Idee eines Industrieverbandes. Doch im zentralen Dachverband sind sowohl Berufsgewerkschaften als auch Industriegewerkschaften willkommen.
Die Organisationsprinzipien, die sich damals herausbilden, haben bis heute Bestand: Arbeiterinnen und Arbeiter werden Mitglied in ihrem Einzelverband, der Einzelverband ist Mitglied des Dachverbands. Die örtlichen, regionalen und zentralen Vorstände werden von Delegierten der jeweiligen Ebene demokratisch gewählt, die Vorstände müssen regelmäßig Rechenschaft ablegen. Der Mitgliedsbeitrag wird in den Einzelverbänden vor Ort entrichtet, über Streikmaßnahmen entscheidet der Zentralvorstand.
Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine
Nicht so positiv ist die Entwicklung der Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine. Obwohl sie nicht vom Sozialistengesetz betroffen sind, sinkt die Zahl der Mitglieder zwischen 1891 und 1892 von 65.500 auf 45.000 ab. Ursache für diese Entwicklung sind interne Konflikte über Inhalte und Struktur der Organisation, unter anderem über die Haltung zum Streik. Nach 1892 steigt die Zahl der Mitglieder langsam wieder an und erreicht mit 106.600 im Jahr 1913 ihren Höchststand.