Ein Heer von Arbeitslosen, massive Mitgliederverluste und leere Kassen: Mit Beginn der Wirtschaftskrise sind die Gewerkschaften in der Defensive. Sie tolerieren die Regierung, um Hitler zu verhindern, obwohl Brünings Sparkurs die Not der Arbeiterfamilien verschärft. Und sie geraten immer mehr zwischen alle Fronten.
Rechte und Linke gemeinsam gegen den ADGB: NSBO- und RGO-Streikposten beim Streik der Berliner Verkehrsgesellschaft Anfang November 1932
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Innerhalb nur weniger Monate bekommen die Gewerkschaften die Folgen der Wirtschaftskrise zu spüren. Die Mitgliederzahlen gehen stark zurück, mehr als 16 Prozent verlieren die Freien Gewerkschaften bereits im Jahr 1930. Bei den anderen Gewerkschaften, mit Ausnahme der Angestelltenverbände, sieht es nicht viel besser aus. Grund dafür ist zu allererst die hohe Arbeitslosigkeit. Aber auch Lohneinbußen, schlechtere Versicherungsleistungen und andere Rückschläge in der Sozialpolitik mindern ihre Attraktivität. Der von der Regierung Brüning verordnete Sparkurs verfehlt nicht nur sein Ziel, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, er schadet auch dem Ansehen der Gewerkschaften.
Natürlich protestieren die Gewerkschaften gegen diese Politik, allen voran die Freien. Doch es bleibt bei eher hilflosen Stellungnahmen. Die Christlichen Gewerkschaften wollen dem Kabinett Brünings, das sie als „Wende in der deutschen Politik“ begrüßt haben, die Loyalität nicht aufkündigen. Die Freien Gewerkschaften sehen sich, wie die sozialdemokratische Reichstagsfraktion genötigt, die „stille Diktatur Brünings” zu tolerieren, um das „Umschlagen in die offene Diktatur” zu verhindern. In ihrem Rückblick auf das Jahr 1930 heißt es dazu sinngemäß: Die Bedrohung durch den Nationalsozialismus lasse die Konflikte um die Sozial- und Wirtschaftspolitik zurücktreten. Es gelte, die parlamentarische Staatsform zu erhalten und die Grundrechte zu retten, auch wenn dies Opfer verlange.
Doch mit dieser Zurückhaltung geraten die Gewerkschaften immer mehr zwischen die Fronten. Die Kommunisten nehmen diese „opportunistische“ und „sozialfaschistische“ Politik zum Anlass, den Kampf gegen die Führung des ADGB zu verschärfen. Sie unterstützen die Revolutionäre Gewerkschaftsopposition (RGO) in den Betrieben und beschließen im August 1930, eine selbstständige „revolutionäre Kampfgewerkschaft” zu gründen. Die Nationalsozialisten versuchen mit ihren Nationalsozialistischen Betriebszellenorganisation (NSBO) ihren Einfluss zu stärken. Der Blick auf die Ergebnisse der Betriebsratswahlen 1931 erlaubt eine ungefähre Einschätzung der Kräfteverhältnisse: Die Hirsch-Dunckerschen Gewerkvereine erringen 1.560, die RGO 4.664, die Christlichen Gewerkschaften 10.956 und die Freien Gewerkschaften 115.671 Mandate.
In einzelnen Branchen ist der Anteil der „oppositionellen” Verbände bei der Betriebsratswahl besonders stark. So sinkt 1931 der Stimmenanteil des Freien Bergarbeiterverbandes im Vergleich zu 1930 von 52,5 auf 45,1 Prozent, während sich der der RGO von 19,4 auf 24,7 verbessert. Die NSBO-Listen erreichen 2,4 Prozent. Im Ruhrgebiet erhalten die Freien Gewerkschaften 36,4 Prozent, die RGO 29,0 Prozent und die Nationalsozialisten 4,1 Prozent der Stimmen.
Angesichts dieser Angriffe von links wie von rechts rücken die Richtungsgewerkschaften noch näher zusammen. Im Herbst 1931 erwägen sie sogar, eine gemeinsame Organisation zu gründen. Doch die Christlichen Metallarbeiter lehnen ab. Sie bestehen auf ihrer weltanschaulichen Eigenständigkeit. Kaum begonnen, ist diese Debatte schon wieder beendet.
Zurückhaltung bis zum bitteren Ende
In den folgenden beiden Jahren geraten die Gewerkschaften weiter in die Defensive. Die Tarifverträge werden unterlaufen und die Regierung Brüning und ihre Nachfolger tun wenig, um den Gewerkschaften entgegenzukommen, im Gegenteil: Die Notverordnungen führen zu immer neuen Lohnsenkungen. Anfang 1932 liegen die Stundenlöhne 17 Prozent unter dem Niveau des Jahres 1930, die realen Wochenlöhne sind um 15 bis 20 Prozent niedriger als 1929.
Auch die Forderung der Freien Gewerkschaften, durch eine Verkürzung der Arbeitszeit auf 40 Stunden pro Woche die Arbeit gerechter zu verteilen, läuft ins Leere. Allerdings sind selbst die Befürworter nicht wirklich davon überzeugt, dass ihre Einführung noch zur Entspannung des Arbeitsmarktes beitragen kann, da die Arbeitszeit angesichts der Krise ohnehin schon auf 41,5 Stunden pro Woche gesunken ist.
Ein ähnliches Schicksal erleidet das Wirtschaftsprogramm, das die Freien Gewerkschaften um die Jahreswende 1931/1932 vorlegen. Darin wird vorgeschlagen, öffentliche Arbeiten mit einem Volumen von zwei Milliarden Reichsmark zu finanzieren und dadurch – gewissermaßen als Initialzündung – eine Million Arbeitslose für ein Jahr wieder in den Produktionsprozess einzugliedern. Gleichzeitig soll die Wirtschaft umgebaut werden.
Wie dies aussehen soll, veröffentlichen die Freien Gewerkschaften im Juli 1932 in den „Richtlinien zum Umbau der Wirtschaft”. Darin fordern sie unter anderem: Die „Schlüsselindustrien sind der Willkürherrschaft der Privatmonopole zu entziehen und in Gemeinbesitz zu überführen. Die Bodenschätze und die lebenswichtigen Rohstoffindustrien, ferner die gesamte Energiewirtschaft sowie der gesamte Verkehrsapparat, die die Grundlagen des modernen Wirtschaftslebens bilden, müssen von der Gesellschaft zum Nutzen der Allgemeinheit planmäßig bewirtschaftet werden.“
Richtlinien des ADGB und des AfA-Bundes zum Umbau der Wirtschaft vom 21. Juni 1932 (pdf)
Diese radikalen Forderungen finden bei der Masse der Mitglieder kaum Gehör. Und sie können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Freien und alle anderen Gewerkschaften sich weiter genötigt sehen, die Politik des Reichspräsidenten und seiner Kanzler zu tolerieren.
Bis es zu spät ist.