August Bebel und Wilhelm Liebknecht

Eisenacher und die Gewerkschaften

Die zweite große Strömung innerhalb der Sozialdemokratie, die der von August Bebel und Wilhelm Liebknecht geführten „Eisenacher”, akzeptiert die Gewerkschaftsidee von Anfang an. Sie folgt damit den von Karl Marx beeinflussten Prinzipien der Internationalen Arbeiter-Assoziation (IAA), die am 28. September 1864 gegründet wurde: In Marx's „Inauguraladresse” wird ebenso wie auf dem Genfer Kongress der IAA die Notwendigkeit der „ökonomischen Emanzipation der Arbeiterklasse” anerkannt. Demgemäß bemüht sich Marx, die Gewerkschaften auf eine revolutionäre Politik zu verpflichten. Nach seiner Ansicht zu „Lohn, Preis und Profit“, die er vor dem Generalrat der Internationale am 26. Juni 1865 darlegt, verfehlen die Gewerkschaften „ihren Zweck gänzlich, sobald sie sich darauf beschränken, einen Kleinkrieg gegen die Wirkungen des bestehenden Systems zu führen, statt gleichzeitig zu versuchen, es zu ändern, statt ihre organisierten Kräfte zu gebrauchen als einen Hebel zur schließlichen Befreiung der Arbeiterklasse, das heißt zur endgültigen Abschaffung des Lohnsystems”. In der von Karl Marx Ende August 1866 ausgearbeiteten Resolution des ersten Kongresses der Internationale werden diese Prinzipien nochmals mit aller Deutlichkeit entwickelt.

Karl Marx, Gewerksgenossenschaften. Ihre Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Resolutions-Entwurf für den Generalrat der Internationale vom August 1866 (pdf)

Diese Ideen entfalten ihre Wirkung eher indirekt, vor allem dadurch, dass sich der Verband deutscher Arbeitervereine auf seinem Nürnberger Vereinstag vom 7. bis 9. August 1868 von seinen Ziehvätern in der liberalen Bewegung lossagt. An diesem „Allgemeinen deutschen sozialdemokratischen Arbeiterkongress” nehmen aus Opposition gegen Schweitzers autoritären Führungsstil und gegen das zentralistische Gewerkschaftskonzept des ADAV mehrere Gewerkschaftsführer teil – allen voran F.W. Fritzsche, der Führer des Zigarrenarbeiter-Verbandes und Vizepräsident des ADAV, sodann Heinrich Schob vom Schneider-Verband, Louis Schumann vom Schuhmacher-Verband und Theodor Yorck vom Tischler-Verband. Angeführt von August Bebel, dem Präsidenten des Verbandes deutscher Arbeitervereine, verabschiedet die Mehrheit der Delegierten eine Resolution, nach der die Emanzipation der arbeitenden Klassen durch diese selbst erkämpft werden müsse. Außerdem wird der Beitritt zu den Prinzipien der IAA beschlossen und die Gründung von „Gewerksgenossenschaften” empfohlen, für die Bebel am 28. November 1868 „Musterstatuten” vorlegt.

Mit diesem Satzungs-Entwurf treten die „Eisenacher”, wie sie ab 1869 nach dem Gründungsort der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) genannt werden, für demokratisch aufgebaute Berufsverbände ein. Das Hauptgewicht der Entscheidungsgewalt – etwa über die Unterstützung von Arbeitskämpfen – soll bei den jeweiligen Zentralverbandsvorständen (§ 38), nicht – wie bei den Lassalleanern – beim „Dachverband” liegen. Die Gewerksgenossenschaften haben das Ziel, „die Würde und das materielle Interesse der Beteiligten zu wahren und zu fördern” (§ 1). Darum sollen u. a. Streik- und Maßregelungsunterstützung sowie ein umfassendes soziales Unterstützungswesen eingerichtet, sodann statistische Erhebungen angestellt und eine eigene Zeitung gegründet werden (§ 2). Außerdem ist die Mitgliedschaft von Frauen ausdrücklich vorgesehen (§ 3). Auf Empfehlung von Bebel werden Anfang 1869 eine Reihe von Verbänden gegründet, so der Internationale Buchbinderverein, die Gewerksgenossenschaft der Berg- und Hüttenarbeiter und die Internationale Manufaktur-, Fabrik- und Handarbeitergenossenschaft unter der Führung von Julius Motteler.

Musterstatuten für Deutsche Gewerksgenossenschaften von August Bebel (pdf) ​

Seiten dieses Artikels:

1830 - 1870

Ab 1830: Die ersten Arbeiterorganisationen
Die Buchdrucker und die Zigarrenarbeiter: Erfolgreiche Vereinsgründungen
1860: Die Gewerkschaftsidee breitet sich aus,  eine neue Gründungswelle beginnt

Themen und Aspekte dieser Epoche:

Debatte über die Arbeitervereine: Streikverein oder Gewerkschaft?
Die sozialdemokratischen Strömungen: 
Lassalle und die Gewerkschaften
Eisenacher und die Gewerkschaften 

Entwicklung der Arbeitskämpfe 1848 bis 1875 (pdf) 
Die Arbeitszeit in der Industrie von 1800 bis 1918 (pdf)
Mitgliederentwicklung gewerkschaftlicher Spitzenverbände ab 1869 (pdf)

Downloadmöglichkeit der Tabellen aller Epochen 

Quellen- und Literaturhinweise

Engelhardt, Ulrich, “Nur vereinigt sind wir stark”. Die Anfänge der deutschen Gewerkschaftsbewegung 1862/63 bis 1869/70, 2 Bde., Stuttgart 1977

Husung, Hans Gerhard, Protest und Repression im Vormärz. Norddeutschland zwischen Restauration und Revolution, Göttingen 1983

Kocka, Jürgen (unter Mitarbeit von Jürgen Schmidt), Arbeiterleben und Arbeiterkultur. Die Entstehung einer sozialen Klasse, Bonn 2015

Kocka, Jürgen, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990

Kocka, Jürgen, Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800-1875, Berlin-Bonn 1983

Kocka, Jürgen, Weder Stand noch Klasse. Unterschichten um 1800, Bonn 1990 Marx, Karl/Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, 1848, in: Dieter Dowe u. Kurt Klotzbach (Hrsg.), Programmatische Dokumente der deutschen Sozialdemokratie, 2., überarb. u. aktualisierte Aufl., Berlin u. Bonn 1984, S. 60 ff.

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Müller, Hermann, Die Organisationen der Lithographen, Steindrucker und verwandten Berufe, Nachdruck der 1917 erschienenen 1. Aufl., Berlin u. Bonn 1978

Offermann, Toni, Arbeiterbewegung und liberales Bürgertum in Deutschland 1850-1863, Bonn 1979

Todt, Elisabeth/Hans Radandt, Zur Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewe¬gung 1800-1849, Berlin (DDR) 1950

Zwahr, Hartmut, Zur Konstituierung des Proletariats als Klasse. Strukturuntersuchung über das Leipziger Proletariat während der industriellen Revolution, Berlin (DDR) 1978

August Bebel, führender Kopf bei den "Eisenacher" Sozialdemokraten
© AdsD/STICK00193

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