Am 18. Januar 1871 wird im Spiegelsaal des Versailler Schlosses in Paris der von vielen ersehnte deutsche Nationalstaat, das Deutsche Reich, gegründet. Wilhelm I. wird deutscher Kaiser und Otto von Bismarck Reichskanzler. Die Ära des „Eisernen Kanzlers“ beginnt. Sie dauert fast 20 Jahre.
Unter Bismarcks Führung entsteht ein autoritär-konservativer Obrigkeitsstaat. Zwar liegt die gesetzgebende Gewalt beim Reichstag, dessen Mitglieder aus allgemeinen und gleichen Wahlen hervorgehen. Doch die Kompetenzen des Reichstags sind begrenzt. Die 25 Einzelstaaten des Deutschen Reiches können über den Bundesrat auf die Entscheidungen Einfluss nehmen, der Reichskanzler, der den Vorsitz des Bundesrates innehat, ist vom Vertrauen des Kaisers abhängig. Dieser entscheidet über Berufung und Entlassung des Reichskanzlers.
Bei den Reichstagswahlen führen das Mehrheitswahlrecht und der Zuschnitt der Wahlkreise zu einer Benachteiligung großstädtischer Regionen und damit auch der Sozialdemokratischen Partei. Verstärkt wird diese Tendenz durch das Dreiklassenwahlrecht, das in Preußen, dem stärksten Land des Deutschen Reiches, gilt. Danach werden die Stimmen der ausschließlich männlichen Wähler nach der Steuerleistung des Einzelnen gewichtet. Anders gesagt: Die Stimme von Reichen sind mehr Wert als die Stimmen von Armen.
Außenpolitisch ist Bismarck darum bemüht, stabile und freundschaftliche Beziehungen zu den Nachbarstaaten des Deutschen Reiches aufzubauen. Mit Ausnahme Frankreichs. Er will die Franzosen isolieren, weil er überzeugt ist, dass sie den Verlust von Elsass-Lothringen als Folge des deutsch-französischen Krieges nicht hinnehmen werden.
Innenpolitisch setzt Bismarck auf eine Doppelstrategie: Alle, die seine obrigkeitsstaatliche Politik kritisierten, werden als „Reichsfeinde“ gebrandmarkt, unterdrückt und verfolgt. Gleichzeitig versucht er mit sozialpolitischen Reformen, die Zustimmung breiter Kreise der Arbeiterschaft zu gewinnen.
Schlag gegen die „Umsturzbewegung“
Die Bemühungen des Reichskanzlers, die „sozialdemokratische Flut“ in Deutschland einzudämmen, zeigen sich bereits mit dem Beginn der wirtschaftlichen Krise: Ende 1873 stellt Bismarck die Kontraktbruchvorlage zur Abstimmung im Reichstag. Sie soll den Streik unter Strafe stellen. Der Versuch scheitert am Widerstand auch der Nationalliberalen. 1874 dann ein neuer Anlauf: Der Erlass des preußischen Innenministers stellt „verderbliche Hetzerei und Aufreizungen gegen die Arbeitgeber, gegen die besitzenden Klassen” in der Presse oder auf öffentlichen Versammlungen unter Strafe. Und ebenfalls 1874 beginnt die nach einem Berliner Staatsanwalt benannte „Ära Tessendorf”, in der alle bestehenden rechtlichen Möglichkeiten zur Behinderung der Arbeiterbewegung ausgenutzt werden.