Rolle der Arbeiterverbände

Streikverein oder Gewerkschaft?

In den 1860er Jahren stehen – sieht man von politischen Parteien ab – zwei Formen der Arbeiterbewegung nebeneinander: Einerseits die zeitlich begrenzten Streik-Koalitionen. Das sind Sammlungsbewegungen, die während eines Konfliktes entstehen und sich dann wieder auflösen. Andererseits örtlich begrenzte, aber auf Dauer angelegte gewerkschaftliche Berufsvereine, die auf dem Prinzip der repräsentativen Demokratie durch die Wahl von Delegierten basieren. Beide Formen der Arbeiterbewegung entstehen vielfach aus aktuellen Konflikten mit den Arbeitgebern.

Doch nur die Gewerkschaften bieten die Chance, auch für die Zeit nach dem Arbeitskampf die Einhaltung der getroffenen Vereinbarung zu kontrollieren und gegebenenfalls ohne Zeitverzug etwaige erneut erforderliche Kampfmaßnahmen anzudrohen oder in die Wege zu leiten. Die Gewerkschaften haben gegenüber den Streikkoalitionen zudem den großen Vorteil, dass sie Rücklagen für Arbeitskämpfe bilden können; außerdem sind sie durch die organisatorische Dauer „lernfähig”, können also z. B. Erfahrungen in der Arbeitskampftaktik „speichern”. Und überdies wird rasch klar, dass Streiks kein Selbstzweck sind; dazu sind die sozialen Kosten für die beteiligten Arbeiter und Arbeiterinnen zu hoch. Außerdem zeigt sich immer wieder, dass große Arbeitskämpfe, insbesondere Streikniederlagen, die eigene Organisation zerstören können. Genaue Überlegungen von Arbeitskampfziel und -weg entwickeln sich bald als Richtschnur der Gewerkschaftspolitik. Die Gewerkschaften sind also eine Antwort auf Arbeitsmarktkonflikte, denen sie zugleich die organisierte Form der Interessenauseinandersetzung verleihen. Mit der Streikwelle der Jahre 1865 bis 1873 setzt sich der Arbeitskampf als Mittel der Interessenvertretung von Arbeitern gegenüber den traditionellen Formen wie Beschwerde und Petition durch.

Schaut man allein auf die Risiken der Streikbewegungen, so wird die Neigung der meisten Gewerkschafter verständlich, möglichst rasch überörtliche Organisationsformen anzustreben. Das Bilden von Rücklagen, die laufende Finanzierung von Arbeitskämpfen und die Verhinderung von Streikbruch durch Zuzug aus anderen (nicht bestreikten) Gegenden können so am besten gewährleistet werden. Außerdem gilt das Unterstützungswesen insgesamt als gewichtiges Argument für möglichst große Organisationen. Aber nicht zu übersehen ist, dass dadurch Formen unmittelbarer Interessenvertretung und spontanen Protests kanalisiert und schließlich verschüttet werden. Gegen „Blaumachen”, Bummeln und „wilde” Streiks steht nicht nur der Disziplin-Anspruch des Arbeitgebers, sondern auch der der Gewerkschaften. Mit der Entscheidung zur Zentralisierung der Verbände wird ein Weg beschritten, auf dem schließlich Verwaltung, Ordnung und Disziplin zum wesentlichen Kennzeichen des gewerkschaftlichen Alltags werden.

Seiten dieses Artikels:

1830 - 1870

Ab 1830: Die ersten Arbeiterorganisationen
Die Buchdrucker und die Zigarrenarbeiter: Erfolgreiche Vereinsgründungen
1860: Die Gewerkschaftsidee breitet sich aus,  eine neue Gründungswelle beginnt

Themen und Aspekte dieser Epoche:

Debatte über die Arbeitervereine: Streikverein oder Gewerkschaft?
Die sozialdemokratischen Strömungen: 
Lassalle und die Gewerkschaften
Eisenacher und die Gewerkschaften 

Entwicklung der Arbeitskämpfe 1848 bis 1875 (pdf) 
Die Arbeitszeit in der Industrie von 1800 bis 1918 (pdf)
Mitgliederentwicklung gewerkschaftlicher Spitzenverbände ab 1869 (pdf)

Downloadmöglichkeit der Tabellen aller Epochen 

Quellen- und Literaturhinweise

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Kocka, Jürgen, Arbeitsverhältnisse und Arbeiterexistenzen. Grundlagen der Klassenbildung im 19. Jahrhundert, Bonn 1990

Kocka, Jürgen, Lohnarbeit und Klassenbildung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in Deutschland 1800-1875, Berlin-Bonn 1983

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Todt, Elisabeth/Hans Radandt, Zur Frühgeschichte der deutschen Gewerkschaftsbewe¬gung 1800-1849, Berlin (DDR) 1950

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