Um die Jahrhundertwende zeichnet sich bei den Christlichen Gewerkschaften mit der organisatorischen Konsolidierung und dem daraus abgeleiteten Selbstbewusstsein der Gewerkschaftsführung um Adam Stegerwald ein tiefgreifender Konflikt mit den Verbündeten in katholischer Kirche und politischer Partei, im Zentrum, ab.
Die Vorgeschichte
Aus dem Streit um „paritätische” Gewerkschaften, d. h. um die Möglichkeit eines (zukünftigen) Zusammengehens mit „wirklich neutralen” Freien Gewerkschaften, gehen die Christlichen Gewerkschaften gestärkt hervor. Ebenso aus dem Zollstreit, in dessen Verlauf es den Einzelgewerkschaften freigestellt ist, sich mit den Aspekten der Zollfrage zu befassen, die sie direkt „beruflich” betreffen. Doch der „Gewerkschaftsstreit” ist für sie eine existenzgefährdende Bedrohung. Zwar führt auch der Zollstreit 1902 zum vorübergehenden Ausschluss von Franz Wieber und des Christlich-sozialen Metallarbeiterverbandes und damit – bis zur Einigung 1903 – zu einer Schwächung der Organisation. Doch am Streit um die Interkonfessionalität und um das Einspruchsrecht der katholischen Geistlichkeit droht die Organisation zu zerbrechen.
Streit um die Interkonfessionalität
Ausgangspunkt des Gewerkschaftsstreits ist die Frage, ob die Christlichen Gewerkschaften durch ihre Interkonfessionalität die Glaubenstreue ihrer katholischen Mitglieder gefährden, sie zu „religiösem Schlendrian” oder gar zur Sozialdemokratie führen. Diese Befürchtungen werden für integralistisch orientierte Katholiken dadurch noch bestärkt, dass die Christlichen Gewerkschaften es ablehnen, sich geistlicher Leitung oder Mitsprache zu unterstellen, und zudem eingestehen, die Bezeichnung „christlich” bedeute für sie eigentlich nur: nichtsozialdemokratisch.
Vor allem die Ankündigung, gegebenenfalls in absehbarer Zeit auch mit den Freien Gewerkschaften, so sich diese parteipolitisch und weltanschaulich neutral verhalten, zusammengehen zu wollen, fordert den Widerstand der Integralisten heraus. Dieser formiert sich mit der Veröffentlichung einer Broschüre Franz von Savignys über „Arbeitervereine und Gewerkschaftsorganisationen im Lichte der Enzyklika „Rerum novarum“ in den Katholischen Arbeitervereinen (Sitz Berlin). Unterstützung finden diese Arbeitervereine, die mit ihren unter geistlicher Leitung stehenden Fachabteilungen einen wirtschaftsfriedlichen Gewerkschaftsersatz zu bieten meinten, bei Georg Kardinal Kopp, dem Fürstbischof von Breslau, und bei Michael Felix Korum, dem Bischof von Trier. Beide beharren auf dem geistlichen Führungsanspruch gegenüber der katholischen Arbeiterbewegung, zu der sie wegen des hohen Katholikenanteils in der Mitgliedschaft auch die Christlichen Gewerkschaften zählen. Ihrer Meinung nach lassen sich wirtschaftliche Fragen keinesfalls von religiösen trennen. Dass sie diesen Standpunkt z. B. gegenüber den Organisationen von Landwirten und Unternehmern nicht vertreten, wird paternalistisch – wenn überhaupt – damit begründet, die Arbeiter bedürfen besonderer Schulung und Hilfe.
Enzyklika „Rerum Novarum“ von Papst Leo XIII. vom 15. Mai 1891 (pdf)
Vor allem auf Georg Kardinal Kopp ist es zurückzuführen, dass der deutsche Episkopat die erste Chance, den sich gerade abzeichnenden Konflikt einzudämmen, mit dem Fuldaer Pastorale von 1900 verpasst. Hier werden die „Katholischen Arbeitervereine, Sitz Berlin” belobigt, die Christlichen Gewerkschaften indessen gar nicht erwähnt. Damit sind die verschiedenartigsten Interpretationen des Willens der Bischofskonferenz möglich. Auch die folgenden Äußerungen des deutschen Episkopats sowie die von Papst Pius X., der bald in die Auseinandersetzungen mit hineingezogen wird, sid durch das kaum verschleierte Bemühen gekennzeichnet, sich nicht eindeutig festzulegen. Dies ist umso verwunderlicher, als die Mehrheit des deutschen Episkopats den Christlichen Gewerkschaften wohlwollend gegenübersteht, sich jedoch – wie der Beschluss der Fuldauer Bischofskonferenz 1910 zeigt – im Willen zu geschlossenem Auftreten von Kopp und Korum immer wieder unter Druck setzen lässt. Als Pius X. 1912 schließlich mit der Enzyklika „Singulari quadam” – auch auf Bitten von Zentrumspolitikern und preußischen Regierungsvertretern – offiziell in den Gewerkschaftsstreit eingreift, blieben seine Äußerungen über „sogenannte christliche Gewerkschaften”, die „geduldet werden könnten”, recht mehrdeutig. Nicht zuletzt darauf, aber auch auf die deutliche Resolution des außerordentlichen Gewerkschafts-Kongresses 1912 und auf die unversöhnliche Gegnerschaft Kopps ist es zurückzuführen, dass der Streit auch nach Veröffentlichung der Enzyklika weitergeht.
Beschluss der Fuldaer Bischofskonferenz vom Dezember 1910 zur Gewerkschaftsfrage (pdf)
Erst mit dem Tod von Kardinal Kopp am 4. März 1914 und mit Beginn des Ersten Weltkrieges verliert diese Frage an Bedeutung. Zu einer (oberflächlichen) Einigung kommt es schließlich 1919. Offizielle Billigung finden die Christlichen Gewerkschaften erst durch Pius XI. mit der Enzyklika „Quadragesimo anno” (1931).
Folgen für die Christlichen Gewerkschaften
Dass sich die Christlichen Gewerkschaften erfolgreich gegen die Führungsansprüche von Teilen der katholischen Kirche behaupten, ist unter mehrfachem Gesichtspunkt von Bedeutung: Die Interkonfessionalität und deren Anerkennung durch die katholische Kirche ist zunächst einmal die Voraussetzung dafür, den sozialdemokratischen Vorwurf, die Christlichen Gewerkschaften seien „Kirchenknechte”, zu entkräften, und damit den Nachweis zu erbringen, dass es sich bei den Christlichen Gewerkschaften um eine „echte“, d. h. unabhängige Gewerkschaftsbewegung handelt. Dabei bedingen die Grundsätze der Interkonfessionalität und parteipolitischen Unabhängigkeit einander, auch wenn sie beide nur in sehr begrenztem Ausmaß von der Realität eingelöst werden. Denn einerseits sind nur 10 bis 20 Prozent der Mitglieder evangelisch, andererseits ist die Zentrumspartei offensichtlich der wichtigste parteipolitische Ansprechpartner.
Während sich die Freien Gewerkschaften eindeutig der SPD anschließen, ist die parteipolitische Loyalität für die Christlichen Gewerkschaften bzw. deren Mitglieder nicht so klar. Einig ist man sich vor allem in der Ablehnung der Sozialdemokratie, so dass von daher der Anspruch parteipolitischer Neutralität' ohnehin auf einem eingeengten Spektrum basiert. Das Schwergewicht des parteipolitischen Engagements Christlicher Gewerkschafter liegt ohne Zweifel im Zentrum, dem auch Johannes Giesberts angehört, der als erster Christlicher Gewerkschafter 1905 in den Reichstag einzieht. 1907 erhöht sich die Zahl der Reichstagsmitglieder aus den Reihen der Christlichen Gewerkschaften auf 6, davon 5 beim Zentrum und einer in der Wirtschaftlichen Vereinigung. 1912 schließlich gehören von den 7 Christlichen Gewerkschaftern im Reichstag 5 dem Zentrum, einer der Christlich-sozialen Partei (die aus der Wirtschaftlichen Vereinigung entstanden ist) und einer der Nationalliberalen Partei an.
Die sich aus der unterschiedlichen parteipolitischen Orientierung der Führer und Mitglieder der Christlichen Gewerkschaften ergebenden Konflikte werden erst in der Weimarer Zeit vollends deutlich. Doch schon im Kaiserreich müssen die Christlichen Gewerkschaften immer wieder erfahren, dass die von ihnen vertretenen Interessen in den ihnen nahestehenden Parteien nur neben bzw. unter denen anderer Gruppen – z. B. Industrie und Landwirtschaft – rangieren. Aber eben durch ihre mannigfachen politischen Verbindungen zu den bürgerlichen Parteien werden die Christlichen Gewerkschaften zum Mittelpunkt einer christlich-nationalen Sammlungsbewegung, deren augenfälligster Ausdruck die Deutschen Arbeiterkongresse sind.