Nach einer Durststrecke von mehreren Jahren steigen die Mitgliederzahlen Ende der 1970er wieder an, und zwar von 6,5 (1966) auf 7,4 Millionen (1976). Doch der Mitgliederzuwachs ist weder auf alle Gewerkschaften noch auf alle Berufsgruppen gleichmäßig verteilt.
Überproportional profitieren davon die Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen, die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft, die Deutsche Postgewerkschaft, die IG Metall, die IG Chemie, Papier, Keramik und die Gewerkschaft Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr. Stagnation oder Einbußen müssen die Gewerkschaft Gartenbau, Land- und Forstwirtschaft, die Gewerkschaft Leder, die IG Bergbau und Energie und die Gewerkschaft Textil und Bekleidung hinnehmen. Nicht weil sie schlechtere Gewerkschaftsarbeit machen, sondern weil die Branchen schrumpfen. Nur ein Beispiel: Im deutschen Bergbau sind 1958 noch gut 650.000 Personen in 622 Betrieben beschäftigt, 1976 nur noch knapp 250.000 Arbeitnehmer in 383 Betrieben.
Dennoch: Die DGB-Gewerkschaften können ihre Position im „Reform-Klima” der 1970er Jahre ausbauen. DAG und der Deutsche Beamtenbund legen ebenfalls zu und kommen im Jahr 1976 auf 71.000 bzw. 803.000 Mitglieder. Der Christliche Gewerkschaftsbund (CGB) hingegen steht vor größeren internen Problemen. Im April 1966 löst sich die Gewerkschaft Christlicher Berg- und Energiearbeiter (Saarland) auf und führt ihre 20.000 Mitglieder in die DGB Gewerkschaft IG Bergbau und Energie.
Welchen Einfluss, die verschiedenen Gewerkschaften in de Betrieben haben, zeigen die Ergebnisse der Betriebsrätewahlen. In der Metallindustrie beträgt der Stimmenanteil der DGB-Listen in den 1960er und 1970er Jahren durchweg etwa 80 Prozent, der der DAG-Listen etwa 2 bis 4 Prozent und der der CGB-Listen knapp 1 Prozent. Der Rest entfällt auf Listen Unorganisierter. Übrigens: 1968 sind nur 11,2 Prozent aller Betriebsratsmitglieder Frauen – ein Prozentsatz, der auch in den 1970er Jahren nicht deutlich ansteigt.
Struktur der Mitgliedschaft
Auch in den 1970er Jahren können die Gewerkschaften die Veränderung der Struktur der Arbeitnehmerschaft in ihrer Mitgliedschaft kaum nachvollziehen: Der Anteil der Arbeiter und Arbeiterinnen an der Gewerkschaftsmitgliedschaft geht zurück – von 75,8 Prozent (1970) auf 71,2 Prozent (1976). Der Anteil der Beamten und Beamtinnen stagniert bei 9,5/9,4 Prozent, der Anteil der Angestellten wächst von 14,7 auf 19,4 Prozent. Auch der Anteil der Frauen nimmt zu: von 15,3 auf 18,3 Prozent.
Damit sind die Arbeiter und Arbeiterinnen auch 1976 deutlich überrepräsentiert. Denn ihr Anteil an der Zahl der Erwerbstätigen liegt „nur” noch bei 49,5 Prozent. Der Lichtblick: Dank offensiver Werbemaßnahmen nimmt der Anteil jüngerer Gewerkschaftsmitglieder zu.
Organisationsgrad steigt
Mit der Zunahme der Mitgliedszahlen steigt zwischen 1966 und 1975 auch der Organisationsgrad in den Betrieben von 32,4 auf 36,6 Prozent. Auch der Organisationsgrad der weiblichen Beschäftigten nimmt von 15,7 auf 19,3 Prozent zu; er bleibt aber deutlich unter dem der männlichen Arbeitnehmer (1975: rund 50 Prozent). Trotz der Steigerung des Organisationsgrades stehen die deutschen Gewerkschaften im Vergleich zu anderen europäischen Ländern schlecht da: In der ersten Hälfte der 1970er Jahre haben die Gewerkschaften in Schweden einen Organisationsgrad von 87, in Belgien von 70, in Dänemark und Österreich (1968) von 66, in Norwegen von 55, in England von 50 und in den Niederlanden von 47 Prozent. Niedriger als in der Bundesrepublik ist er in den USA (28 Prozent) und in Frankreich (25 Prozent).
Betrachtet man den Organisationsgrad der einzelnen Gewerkschaften, so zeigt sich wiederum kein einheitliches Bild. So können ihren Organisationsgrad verbessern: die IG Metall von 34,1 auf 43,6; die IG Chemie, Papier, Keramik von 35,9 auf 40,1; die IG Bergbau und Energie von 72,8 auf 86,7; die IG Druck und Papier von 31,8 auf 36,0; die Gewerkschaft Textil und Bekleidung von 25,2 auf 32,5 Prozent. Von Stagnation bzw. Rückgang geprägt ist das Bild bei der Gewerkschaft Bau, Steine, Erden (19,5 auf 20,5), bei der Gewerkschaft Holz (19,1 auf 18,6) und bei der Gewerkschaft Nahrung, Genuss, Gaststätten (18,2 auf 16,4).
Die insgesamt positive Mitgliederentwicklung dürfte zu einem nicht geringen Teil auf eine Verminderung der Fluktuationsrate zurückzuführen sein. Diese geht – mit einigen, zum Teil deutlichen Schwankungen – zwischen 1965 und 1975 bei der IG Chemie, Papier, Keramik von 13,1 auf 9,4, bei der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen von 18,6 auf 12,9, bei der IG Metall von ca. 15 auf 10,9 und bei der Gewerkschaft Textil und Bekleidung von 18,8 auf 16,5 Prozent zurück.
Dies mag auf die neue Methode der Beitragskassierung zurückzuführen sein. Der Anteil der Bankabbuchung des Beitrages nimmt von 1965 bis 1975 deutlich zu. Außerdem wächst die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder, deren Beitrag gleich vom Lohnbüro einbehalten und an die jeweilige Gewerkschaft überwiesen wird. Signalisieren schon diese Verfahren der Beitragskassierung eine zunehmende Anonymität zwischen Mitgliedern und Organisation, so wird dieser Trend zwischen 1960 und 1975 durch den Abbau von Verwaltungsstellen mehrerer Gewerkschaften – z. B. der IG Bergbau und Energie (von 50 auf 23), der IG Chemie, Papier, Keramik (von 83 auf 68), der Gewerkschaft Handel, Banken und Versicherungen (von 371 auf 45), der IG Metall (von 186 auf 168) und der Gewerkschaft Textil und Bekleidung (von 136 auf 79) – verfestigt. Zwar erhöht sich im selben Zeitraum der durchschnittliche Personalbestand der Verwaltungsstellen, doch es bleibt der Eindruck einer zunehmenden Entfernung von Gewerkschaftsorganisation und Mitgliedschaft.